Siegen. Vier Wochen im Ausland können viel verändern: Die IHK Siegen ermöglicht Jugendlichen Praktika in Irland. Was erleben sie, was bringt es ihnen?
Vier Wochen können eine Menge ausmachen. „Ich bin als sturer Siegerländer gegangen und als offener Mensch zurückgekommen“, sagt Joshua Schlosser über seinen Aufenthalt in Irland. Der 21-Jährige nutzte das Programm „Wings goes Ireland“ der Industrie- und Handelskammer (IHK)Siegen, um während seiner Ausbildung zum Kaufmann für Digitalisierungsmanagement bei der Siegenia Gruppe in Wilnsdorf-Niederdielfen eine Auslandserfahrung zu machen. Im Gespräch mit ihm und anderen Teilnehmenden wird schnell deutlich, dass diese nachhaltig Eindruck hinterlassen hat.
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Merle Jung, Auszubildende zur Automobilkauffrau beim zum Autohaus Schneider gehörenden Autohaus Völkel in Erndtebrück und Paul Schommers, angehender Kaufmann für Außen- und Großhandelsmanagement bei der Bikar-Metalle GmbH in Bad Berleburg, sitzen mit am Tisch, außerdem Dr. Christine Tretow. Sie ist Leiterin der Servicestelle Mobilitätsberatung bei der IHK Siegen. Die Kammer ermöglicht Auszubildenden aus den Kreisen Siegen-Wittgenstein und Olpe nicht nur über ihr eigenes Programm Auslandsaufenthalte, sondern auch mit Hilfe von Partnern. Mit „Wings goes Ireland“ geht es für 20 junge Menschen pro Jahr nach Cork, die zweitgrößte Stadt Irlands. Vier Wochen sind sie dort. Das klingt nicht viel – und doch „kommen sie verändert zurück“, sagt Christine Tretow. Es geht vor allem um sogenannte Soft Skills, „um soziale Kompetenzen, den Blick über den Tellerrand, um Kommunikation“, erklärt die Fachfrau. Irland ist Teil der EU, Teil der westlichen Welt – und doch sei dort Einiges sehr anders als in Deutschland.
Von Siegen nach Cork: Ohne Smalltalk und freundliche Worte läuft in Irland nichts
Worin die Unterschiede liegen, wird im Austausch mit den Jugendlichen plastisch. „Die Menschen haben einen anderen Umgang miteinander; viel entspannter, viel netter. Man kann gut Gespräche aufbauen, auch mit Fremden. Wir haben alle schnell Freunde gefunden“, erzählt Merle Jung. Das treffe nicht nur auf den privaten Bereich zu. Die 18-Jährige hat in Cork in einem Autohaus gearbeitet, auch dort habe diese lockere Art dazugehört. „In Deutschland wird direkt ins Verkaufsgespräch eingestiegen. In Irland startet es immer mit ,Wie geht’s Dir?’, dann wird beispielsweise über die Familie geredet. Man lernt den Kunden kennen, freut sich über jedes Gespräch.“ Autos werden natürlich trotzdem verkauft – doch Smalltalk und persönlicher Austausch haben einen ganz anderen Stellenwert.
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Auch bei Paul Schommers wird klar, dass er diesen Aspekt sehr zu schätzen wusste. Der 20-Jährige war in Cork in einem anderen Bereich als seinem herkömmlichen Ausbildungsumfeld tätig. Er arbeitete in einem Laden, in dem Druckaufträge für Endkunden erledigt werden, ähnlich deutschen Copyshops. Er saß an der Rezeption und auch er stellte fest, dass die Kundinnen und Kunden nicht direkt ihr eigentliches Anliegen vortragen und damit sofort auf die professionell-distanzierte Ebene gehen, sondern den Kontakt eher mit einer Frage wie „Hast Du die neuesten Nachrichten gehört?“ beginnen. „Ich finde das gut, sagt Paul Schommers. Vom rein menschlichen Umgang abgesehen kam ihm das auch in anderer Hinsicht sehr entgegen: „Ich spreche leidenschaftlich gerne Englisch.“
Azubis aus Siegen-Wittgenstein schätzen die Lockerheit der Menschen in Irland
Die Lockerheit, die die jungen Siegerländer in Cork erlebten, zog sich durch alle Bereiche des täglichen Lebens. Merle Jung und Paul Schommers wohnten in Gastfamilien, lernten den Alltag der Menschen hautnah unmittelbar kennen. „Nach 20 Sekunden habe ich den Haustürschlüssel in die Hand bekommen“, berichtet Paul Schommers. Dass einem 20-Jährigen aus einem anderem Land sofort soviel Vertrauen entgegengebracht wird, überraschte ihn. Er wohnte bei einem Ehepaar mit vier Kindern, habe viel Zeit in der Familie verbracht, mit den Kindern gespielt, sei herzlich aufgenommen worden. Ähnlich war es bei Merle Jung, die bei einer Frau und ihrer Tochter logierte: „Ich habe die Familie sehr ins Herz geschlossen.“ Auch sonst würden es einem die Irinnen und Iren wirklich nicht schwer machen: „Es gab keine Situation, wo ich jemand Fremden angesprochen und keine freundliche Antwort bekommen habe.“
Viele gute Gründe
Für die Praktika in Irland entschieden sich die Auszubildenden aus verschiedenen Gründen.
„Ich verreise auch privat gerne“, sagt Merle Jung. Der Aufenthalt in Cork „war eine Superchance, einen anderen Blickpunkt zu bekommen. Man sieht sonst ja nur die eigenen vier Wände, den eigenen Betrieb und die eigene Berufsschule.“
Joshua Schlosser erzählt, dass sein Großvater immer schon von Irland geschwärmt und ihm geraten habe, dort einmal hinzureisen. „Ich will in jungen Jahren viel von der Welt sehen“, sagt der 21-Jährige. Irland sei für ihn außerdem sehr interessant, weil viele groß Tech-Unternehmen dort ihren Sitz haben.
Paul Schommers erfuhr über eine Kollegin vom Wings-Programm. „Das klang interessant. Und ich spreche leidenschaftlich gerne Englisch.“
Joshua Schlosser, der 2022 und damit ein Jahr vor den beiden anderen in Cork war, kam nicht bei einer Gastfamilie unter, sondern in einem Studierendenwohnheim. Dafür lernte er eine Art des Arbeitens kennen, die in Deutschland vielerorts nach Zukunftsmusik klingt: Bei dem Software-Unternehmen, bei dem er tätig war, sitzen alle im Homeoffice – und das weltweit. Die Digitalisierung sei auf einem ganz anderen Level als in Deutschland. Live getroffen hat er aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen niemanden, Kontakt läuft per Video-Call, Chat oder Email.
Siegen: In manchen Dingen „könnten wir uns eine Scheibe von den Iren abschneiden“
Selbst das gelingt in Irland aber mit einer persönlichen und verbindlichen Note, wie der 21-Jährige schildert. In einem Online-Meeting hätten sich am ersten Tag alle vorgestellt. Sein Chef habe über digitale Kanäle jeden Tag mit ihm gesprochen, und das nicht nur über die Arbeit – er habe ihm auch auf privater Ebene Tipps gegeben. Joshua erledigte seine Aufgaben vom Wohnheim aus. „Man fühlt sich frei, man bekommt viel Vertrauen. Vom ersten Tag an wurde ich gleich als vollwertiger Mitarbeiter behandelt“, beschreibt er. „Man hat seine Aufgaben, an denen man einfach arbeiten kann.“ Das motiviere. Eine gewisse Flexibilität sei inbegriffen. Einmal habe der Chef zum Beispiel gesagt: „Die Sonne scheint, geht raus. Ihr könnt ein andermal länger arbeiten.“ In Deutschland tun sich Unternehmen mit solcher Lockerheit oft schwer, doch Joshua Schlosser ist überzeugt, dass es funktioniert. „Wenn das Geld stimmt und die Arbeit Spaß macht, dann läuft das von allein.“
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„Was ich mitgenommen habe aus Irland: Ich habe gelernt, manches nicht an mich heranzulassen“, sagt Merle Jung. Wenn Dinge in Deutschland nicht wie geplant oder gewünscht laufen, würden die Menschen oft ungeduldig oder sogar ungehalten. „Bei den Iren ist alles einfacher – die suchen halt eine Lösung. Alles etwas lockerer zu sehen, sich nicht direkt aufzuregen: Da könnten wir uns eine Scheibe von den Iren abschneiden.“
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