Allenbach. Holocaust-Überlebende Eva Erben erzählt ihre Geschichte vor Schülerinnen und Schülern aus Siegen-Wittgenstein. Sie ist unglaublich erschütternd.

Weiter, weiter! Was auf dem Todesmarsch von Auschwitz in ein Nirgendwo der auf Deutsch gebellte Befehl war, ist für Eva Erben zum Lebensmotto geworden. Weiter, weiter! Bloß nicht aufgeben, immer hoffen, bauen, bewahren. Deshalb wird die 92-Jährige nicht müde, von dem zu erzählen, was war, um an das zu appellieren, was sein und werden kann: Versöhnung, Achtung, Respekt, Frieden. Vierzig Jahre hat die in Tetschen (Děčín) geborene Jüdin über den Schrecken ihrer jungen Jahre geschwiegen, hatte ihre Erinnerungen begraben. Doch fasste sie den Mut, ihre Geschichte zu erzählen – und zwar so, wie sie gewesen ist. Erst in hellen Farben, dann zunehmend in tristem Grau, später voller Eiseskälte, Schmutz, Hunger und Tod.

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Eva Erbens Geschichte konnten am Dienstagvormittag etliche Jugendliche an weiterführenden Schulen in Siegen-Wittgenstein kennenlernen. Sie hatten die Gelegenheit, aus erster Hand zu erfahren, wie ein schleichender Antisemitismus mitten in Europa erst zur Ausgrenzung und dann zum Ausmerzen von rund sechs Millionen Juden führte.

„Gedenken im Wohnzimmer“

Das Zeitzeugengespräch fand im Rahmen des Formats „Zikaron BaSalon – Gedenken im Wohnzimmer“ statt. Bei dieser israelischen Initiative laden Menschen in ihr Zuhause ein, um dort mit Shoah-Überlebenden ins Gespräch zu kommen.

Außer dem Gymnasium Stift Keppel beteiligten sich die Gymnasien in Wilnsdorf und Bad Laasphe, die Freie Christliche Realschule Siegen, die Gesamtschule Eiserfeld, die SV des Weiterbildungskollegs Siegen und die Sekundarschule Burbach-Neunkirchen. Die Aktion fand zum dritten Mal statt und wurde von Barbara Friedrich (Kreisjugendring) und Efrat Simmenhaus-Shafran (Direktorin externe Beziehungen Emek Hefer) moderiert.

Am Dienstagabend lud die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland zum „Gedenken ins Wohnzimmer“ ein – auch hier stand die Begegnung mit Eva Erben an. Ihre Geschichte ist nachzulesen: im Buch „Mich hat man vergessen: Erinnerungen eines jüdischen Mädchens“ oder unter www.verfolgung-von-jugendlichen-im-ns.de/biographies/eva-erben.

Der Kreisjugendring Siegen-Wittgenstein ermöglichte gemeinsam mit Partnern im israelischen Emek Hefer die Begegnung mit dieser Zeitzeugin – per Videoschalte. Auch die Q1 sowie etliche Neuntklässler des Gymnasiums Stift Keppel in Allenbach beteiligten sich an diesem Format und ließen sich in der Schulaula mitnehmen in eine Zeit, die vergangen, aber doch höchst gegenwärtig ist. „Wir sind nicht schuld an dem, was geschehen ist“, sagt der 16-jährige Laurin Wentzel. „Aber wir haben die Verantwortung, diese Geschichten am Leben zu erhalten.“

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Eine dieser Geschichten ist eben die von Eva Erben, die ein Filmteam aufgenommen und mit deutschen Untertiteln versehen hat. Die Zeitzeugin berichtet auf Hebräisch. Später, im Gespräch mit den Jugendlichen, wird sie Deutsch sprechen, die Sprache der Täter, aber auch der wenigen, die ihr beim Überleben geholfen haben: „Nicht alle waren Mörder.“

Das Gymnasium Stift Keppel in Allenbach war am Dienstagmorgen einer der Übertragungsorte für die Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden Eva Erben. Dr. Christoph Galle (links), Geschichtslehrer am Gymnasium Stift Keppel, ist es wichtig, Zeitzeugen im Unterricht zu Wort kommen zu lassen. Der Bericht von Eva Erben beeindruckte auch die Q1-Schüler Max, Simon, Aibu, Simon und Laurin (von links).
Das Gymnasium Stift Keppel in Allenbach war am Dienstagmorgen einer der Übertragungsorte für die Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden Eva Erben. Dr. Christoph Galle (links), Geschichtslehrer am Gymnasium Stift Keppel, ist es wichtig, Zeitzeugen im Unterricht zu Wort kommen zu lassen. Der Bericht von Eva Erben beeindruckte auch die Q1-Schüler Max, Simon, Aibu, Simon und Laurin (von links). © Claudia Irle-Utsch | Claudia Irle-Utsch

Das Unheil beginnt für Eva in Prag. Nach wenigen Jahren eines „ganz normalen Lebens“ wurde den Juden plötzlich die Teilhabe verwehrt; selbst Spielplätze waren für sie nicht mehr zugänglich. Man habe das irgendwie hingenommen, sagt Eva – immer hoffend, dass dieser Spuk vorübergehen werde. Ein Trugschluss. 1941 müssen Eva und ihre Eltern packen – 50 Kilo Gepäck sind erlaubt für die Fahrt in die Festungsstadt Terezín, das Ghetto Theresienstadt. Es ist den inhaftierten Erwachsenen dort zu verdanken, dass die Kinder lernen können, musizieren, spielen, dass sie ärztlich versorgt werden, trotz der drückenden Enge, trotz der mangelhaften Ernährung. Hier, sagt Eva Erben, „war das Überleben möglich“ – allerdings nur mit viel Glück.

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Vater, Mutter, Kind können in Theresienstadt nicht bleiben. Erst wird der Vater zum Bau eines neuen Ghettos abtransportiert („Da habe ich Papa zum letzten Mal gesehen …“), dann müssen auch Eva und ihre Mutter mit dem vernagelten Zug nach Osten. Mit List und mit Fortune entkommen sie an der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau der Selektion des Lagerarztes Josef Mengele und müssen doch leiden. Den Kopf rasiert, der Kleidung beraubt, den Elementen ausgeliefert, hungrig, krank. „Es war schrecklich.“

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Als den Nazis klar wurde, dass ihr Krieg verloren ging, trieben sie die Gefangenen davon. Weiter, weiter. Auf diesem Todesmarsch verliert Eva ihre Mutter, die entkräftet stirbt. Doch deren unermüdliches Reden von dem, was sein würde, wenn sie wieder daheim in Prag wären, hält das 14-jährige Mädchen am Leben. In einer Scheune bleibt Eva zurück. Unbemerkt, vielleicht auch ignoriert. Gerettet ist sie, als Bauernleute in Postřekov sich ihrer erbarmen. Vorbei ist zwar längst nicht alles, doch die Zeichen stehen auf Anfang.

Schülerschaft fragt nach

Rege ist im Anschluss an den Bericht die Diskussion. Die Schülerinnen und Schüler aus dem Siegerland fragen bei Eva Erben nach: Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt? „In Prag, bei den Feiern zur Proklamation des Staates Israel.“ Konnte man aus Auschwitz fliehen? „Nein, das war total aussichtslos. Nur zwei jungen Männern ist das gelungen.“ Haben Sie jemals die Hoffnung aufgegeben? „Nie, nie, nie. Auch ihr dürft die Hoffnung niemals verlieren. Alles Schlimme endet einmal.“ Wie beurteilen Sie den Krieg in der Ukraine? „Das ist sehr schrecklich. Aber den Menschen dort wird geholfen, ihnen steht die Welt offen. Bei uns war die ganze Welt stumm, für uns blieb nur die Gaskammer.“

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