Walpersdorf. Die Walpersdorfer holen Antonie Pawlaczyk und Willi Müller zurück in die Erinnerung: Zwei Netphener wurden ermordet. Als „lebensunwert“.
Anita Diehl möchte nicht sprechen an diesem Nachmittag. Um ihren großen Bruder hat sich über Jahrzehnte niemand gekümmert – „ich habe nichts davon gewusst“, sagt auch Ortsbürgermeister Rüdiger Bradtka, der seit über 30 Jahren in Walpersdorf lebt. Nun haben sich ganz viele Dorfbewohner an der Anlage im Oberdorf versammelt, da, wo der Michelbach Richtung Sieg plätschert. „Sein Schicksal darf nicht nur Ihr persönliches Leid ausmachen“, wird Bürgermeister Paul Wagener gleich sagen, „er wird Teil unserer kollektiven Erinnerung.“ Denn Willi Müller, Anita Diehls großer Bruder, ist in der Gaskammer von Hadamar von den Nazis ermordet worden.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
Zur Walpersdorfer 675-Jahrfeier 2019 werden zwei Schicksale entdeckt
Das Chronikteam, das sich 2019 zur 675-Jahrfeier von Walpersdorf zusammengefunden hatte, ist auf das Schicksal von Willi Müller und Antonie Pawlaczyk gestoßen, für die an diesem Montagnachmittag Stolpersteine verlegt werden. Für Willi Müller im Oberdorf, in Sichtweite des Hauses Hirschstraße 4, das damals einfach das Haus Nr. 21 war, wo er als zweitältestester Sohn von insgesamt 14 Kindern des Fabrikarbeiters Martin Müller und seiner Frau Anna Hermine am 28, April 1925 zur Welt kam. Und im Unterdorf, an der Dicken Eiche, für Antonie Pawlaczyk, die am 1. Januar 1897 bei Posen geboren wurde und Dienstmagd beim Milchhändler Wilhelm Meiswinkel im Haus Nr. 37 war, bis sie 1927 in die „Provinzialheilanstalt“ Warstein kam.
+++ Lesen Sie auch: Alle kennen „Zigeunerröschen“ +++
Auch Traute Fries und Klaus Merklein, beide dem Aktiven Museum in Siegen verbunden, sind nach Walpersdorf gekommen. Traute Fries hat noch von ihrem Vater Wilhelm Fries den Zettel mit den Namen von fünf Weidenauer „Euthanasie-Opfern“ bekommen. Der Weidenauer Psychiatrie-Chefarzt Dr. Heiko Ulrich hat in Hadamar 14 Namen aus dem Siegerland erfahren – mit Sicherheit hat es noch viel mehr Krankenmorde gegeben,. Rüdiger Bradtka erwähnt den 1. Januar 1934, an dem das „Gesetz zur Vermeidung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft trat. „Das war ihr Todesurteil.“ Für den kleinen, an Epilepsie erkrankten Willi, der nicht eingeschult wurde, sondern als Neunjähriger in die Provinzial-Heilanstalt Marsberg eingewiesen wurde. Und für die geistig behinderte Antonie, die 1941 von Warstein in die „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Eichberg“ in Hessen verlegt wurde.
+++ Lesen Sie auch: Nazi-Krankenmorde in Netphen: Der graue Bus fährt in den Tod +++
Anita Diehl hat ihren Bruder nie kennen gelernt
„Den Menschen einen Namen geben, Unrecht sichtbar machen“: Bürgermeister Paul Wagener erklärt den Sinn dieser ersten Stolpersteine, die im Stadtgebiet für die Opfer von Krankenmorden verlegt werden, nach den sechs Stolpersteinen für die jüdischen Familien Faber und Lennhoff. „Jeder Mensch hat das Recht auf ein würdiges Leben und ein würdiges Sterben. Das ist dem kleinen Willi verwehrt worden“, sagt Paul Wagener. „Viele Ältere“, so Paul Wagener weiter,, „haben noch eine sehr direkte Vermittlung bekommen“, von Eltern und Großeltern. Wie auch Anita Diehl, der erst anderthalb Jahre nach Willis Ermordung geboren wurde. „Meine Mutter hat mir alles erzählt, als ich noch ein Kind war“, erzählt die fast 80-Jährige, die der Zeremonie auf der Bank neben dem Stolperstein beiwohnt. Willis und Anitas Mutter starb 1958, der Vater 1959. Gedanklich jeden Tag über den Stolperstein stolpern – und sich, indem man Namen und Lebensdaten liest, vor ihm verneigen: Das wünscht der Bürgermeister, der am Ende seiner Ansprache auf ein „Glückauf“ verzichtet und mit einem Segenswunsch schließt: „Vielen Dank, Walpersdorf."
+++ Lesen Sie auch: Werthenbach erinnert an Mädchen, das im KZ starb +++
Anna Neuser trägt ein Lied vor: „Ich bete an die Macht der Liebe.“ Ein evangelisches Kirchenlied, das bei der Bundeswehr zum Großen Zapfenstreich gespielt wird. Im Oberdorf setzen Bürgermeister und Ortsbürgermeister den Stolperstein gemeinsam mit Ruth Schäfer, einer NIchte von Willi Müller. Im Unterdorf tritt Johannes Meiswinkel, der Vorsitzende des Heimatvereins, dazu - von Antonie Pawlaczyk konnten die Walpersdorfer keine Angehörigen ausfindig machen. Willi Müller wurde am 22. August 1941 in Hadamar vergast, Antonie Pawlaczyk am 23. April 1942 in Eichberg. Es werden nicht die letzten Stolpersteine sein, die in Netphen gesetzt werden müssen.
+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++