Burbach. Sie sind in Burbach erst einmal in Sicherheit: Akademiker aus Afghanistan, die aktiv werden wollen, statt ewig auf einen Sprachkurs zu warten.

Irgendwo im Nirgendwo sind sie gelandet. Fünf Menschen aus Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Sie haben ihre Heimat verlassen, weil ihnen die Sicherheit abhandengekommen war. Und die Freiheit auch. Die Freiheit des Denkens, Redens und Tuns, die Freiheit, Gesicht und auch Haltung zu zeigen, die Freiheit der Kunst und der Lehre – alles dahin. Eingeschränkt, verboten. Wehe dem, der es wagt, die Gesetze der Taliban zu übertreten. Und wehe der, die es wagt. Denn gerade Frauen haben unter der rigiden Herrschaftsstruktur der im August 2021 wieder an die Macht gekommenen „Gotteskrieger“ zu leiden. Grundlegende Rechte gelten für sie nicht mehr. Wer opponiert, wird gefoltert, womöglich getötet.

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Die fünf Menschen aus Kabul gehören zu den rund 38.000 besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen, denen die Bundesregierung eine Aufnahme in Deutschland zugesagt hat: den sogenannten Ortskräften sowie Bürgerinnen und Bürgern aus Zivilgesellschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft. Die Kunstdozentin Angeza (35) ist am 3. November mit Ehemann Bashir und Kind sowie ihren betagten Eltern nach Deutschland gekommen. Die Familie ist in einem der „Boardinghouses“ im Gewerbepark Siegerland, und damit auf dem einstigen als Erstaufnahmeeinrichtung genutzten Burbacher Kasernengelände, untergebracht. Fünf Menschen. In Sicherheit und vage auf Neues hoffend.

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Angeza

„I feel very safe“, sagt Angeza. Dieses Gefühl wiegt für sie alles andere auf. Sie berichtet auf Englisch, ist eine gebildete Frau: Abitur, Kunststudium, Lehrauftrag an der Universität von Kabul. Damit passt sie nicht ins Weltbild der Taliban. „They don’t like educated women.“ An der Hochschule hätten sie das ganze Department umgekrempelt, berichtet sie. Alles Körperliche dürfe nicht mehr gemalt, nicht gezeigt werden: keine Porträts, keine Skulpturen. Frauen in Forschung und Lehre und auch als Studierende seien nicht gern gesehen. Der Unterricht habe nach Geschlechtern getrennt erfolgen müssen. Das alles habe sie und ihre Kolleginnen total nervös gemacht. Zumal die Taliban an der Unipforte täglich den korrekten Sitz der Kleidung checkten. Ohne Niqab, den Gesichtsschleier, der nur die Augenpartie frei lässt, gehe gar nichts mehr. In dieser Welt will und kann Angeza nicht mehr leben. Inzwischen hat das Regime jungen Frauen in Afghanistan ausdrücklich verboten zu studieren.

Ortskräfte in Boardinghäusern

Die Gemeinde Burbach mietet seit dem 21. März 2022 auf dem Gelände der ehemaligen Siegerlandkaserne eines der frisch renovierten „Boardinghäuser“ an – und damit insgesamt 41 Zimmer (16 Einzel-, 21 Doppel- und drei Drei-Bett-Zimmer sowie ein Apartment). Untergebracht sind hier vor allem Geflüchtete aus der Ukraine, außerdem syrische, kurdische und staatenlose Menschen. Gemeindeweit hat „das Rathaus“ etliche weitere Wohnungen und Objekte für die Unterbringung Geflüchteter angemietet.

In Burbach leben neben der Familie von Angeza und Bashir aktuell zwei Großfamilien mit jeweils zwölf Personen, die über das „Aufnahmeprogramm 8/2021 (Ortskräfte)“ nach Deutschland gekommen sind. Zugewiesen wurden sie von der Bezirksregierung Arnsberg in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium.

Um die rund 230 Geflüchteten, die in der Gemeinde Burbach leben und nicht aus der Ukraine stammen, kümmern sich neben Susanne Riderer zwei weitere bei der Kommune angestellte Minijobber.

Zu ihrem Glück hat sie Freunde in Deutschland. „Sie wussten, dass wir in einer extrem schwierigen Situation waren, und machten uns Mut, uns registrieren zu lassen.“ Und so kommt Angezas Name auf eine Liste, die Rettung verheißt: Ihre Ausreise ist möglich. Und auch die von Ehemann Bashir, Tochter Sofia, von Vater, von Mutter. Hoch über Burbach sind die Verhältnisse beengt; Küche, Bad und WC werden im Haus geteilt mit all den anderen auf der Etage, was so richtig schön nicht ist. Und doch erst einmal sei, so Angeza, alles gut.

Bashir

Bashir hat etwas vorzuweisen, er bringt Knowhow nach Deutschland mit. Sechs Seiten lang ist sein Überblick über die schulische und universitäre Ausbildung, über berufliche Stationen und herausragende Projekte. Bashir Ahmad Muhsen, 1981 in der südlich von Kabul gelegenen Provinz Logar geboren, ist promovierter Ingenieur mit einem Füllhorn an Erfahrungen in den Bereichen Stadtentwicklung und Wohnungsbau.

Seine Schilderung setzt in den frühen 1990er Jahren an. Er hört zum ersten Mal von jenen, die sich Taliban nennen. An dieser Gruppierung scheiden sich die Geister. Die einen halten sie für von Gott gesandt, die anderen erleben bald, wie Freiheiten schwinden. Der Islam ist beherrschend, auch an der Kabul University, wo Bashir sein Studium mit dem Bachelor of Science abschließt. Dann kommt 9/11 und mit ihm noch im selben Jahr (2001) die Vertreibung der Taliban. Afghanistan soll mit Unterstützung der westlichen Mächte auf den Weg gebracht werden zu einem demokratischen Staat. Bashir findet erste Anstellungen bei NGOs, arbeitet in UN-Projekten mit und bei der International Organization for Migration. Master- und Doktortitel erwirbt er in Japan, am Nagoya Institute of Technology, und bringt von dort auch an die heimische Universität den „wind of change“ mit.

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Es läuft gut, doch bald ist kaum noch etwas gut. Nach der Wahl von Aschraf Ghani zum Präsidenten des Landes im September 2014 beginnt ein schleichender Niedergang. „All things came down.“ Und die Taliban wittern Morgenluft. Anfang 2017 verlässt Bashir die Universität. Er hat die Chance, als Direktor beim Ministry of Urban Development and Land zu arbeiten. Mit Vision und Mission. Bashir will sein Land weiter nach vorn bringen, er sitzt bei internationalen Konferenzen als Koordinator am Tisch. „Ich weiß, wie man ein Land so gut wie möglich aufbauen kann“, sagt er. „Wir wollten etwas verändern.“ Doch das Unterfangen scheitert. Es wird ein Jahr lang nicht bezahlt, ihn stören korrupte Verflechtungen. Also kündigt Bashir den Job, der für ihn Berufung war, und arbeitet künftig vor allem projektbezogen. Die neuen Machthaber haben für einen Problemlöser wie ihn keine Verwendung mehr.

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Bashirs Pläne richten sich nun auf Deutschland. „I hope we‘ll go to a place like Düsseldorf, Köln or Stuttgart“, sagt er. Dort säßen die größten Companys mit den interessantesten Projekten. Es macht ihm zu schaffen, dass er in Burbach auf einer Art Insel lebt – abhängig von den Behörden, was die Gestaltung und auch Finanzierung seines Lebens angeht. Er fühle sich nicht gut dabei, Geld zu bekommen, ohne etwas dafür zu leisten, möchte etwas tun, etwas gestalten. Der erfahrene Netzwerker versteht das Schleppende der deutschen Bürokratie nicht so recht. Viel zu lang dauere es zum Beispiel mit dem Einstieg in einen Sprachkurs. Das ließe sich doch besser organisieren, sagt Bashir, wohl wissend, dass untätiges Warten ohne Perspektive den Menschen krank machen kann. Natürlich sind er und Angeza längst dabei, mit App und Lehrbuch etwas Deutsch zu lernen. Aber, sagt er, „we need someone to talk“.

Zweimal in der Woche telefoniert Bashir mit seiner Mutter. Seine Familie ist in Afghanistan geblieben und hat es nicht leicht. Besonders problematisch sei die Situation für seine beiden Nichten, denen der Staat verboten hat zu studieren.

Sofia

Rosarot ist das kleine Areal auf dem Boden, wo Sofias Spielzeuge ihren Platz haben. Puppen und Plüschtiere wie der Dinosaurier aus Stoff. Zu lange mag und kann Sofia, noch drei, aber bald schon vier Jahre alt, nicht in diesem einen Zimmer bleiben. Sie liebt es, draußen zu sein, gern mit dem Laufrad. Wie gut, dass sie beim Spazierengehen mit ihrem Vater im Nachbardorf einen schönen Spielplatz entdeckt hat, wie dumm, dass der Weg so weit ist. Noch mehr als Schaukel, Wippe oder Rutsche braucht Sofia andere Kinder. Doch die gibt es nicht in der Nachbarschaft. Nur ein einziges, aber schon älteres Mädchen. Vieles wäre besser, wenn Sofia in den Kindergarten gehen könnte.

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Nasrin und Sayed

In ihrem großen Koffer bewahrt Nasrin auf, was ihr wichtig ist: Gebetsteppich, Kleidung, das Video von der Hochzeit ihres Sohnes und Zeichnungen von Tochter Angeza. Damit hütet die Frau aus Kabul einen Teil des Familienschatzes. In ihrem Koffer bündelt sich, was zum Teil verloren ging. Zwei ihrer Kinder sind in Afghanistan geblieben, ein Sohn lebt in Deutschland, sie selbst mit ihrem Mann gerade auf der Höhe über Burbach. In einem Raum mit Bett und Stuhl und Schrank und Kühlschrank. Kein Raum, um Gäste willkommen zu heißen, findet Nasrin, und lädt doch zum Eintreten ein.

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Auch sie war nicht mehr sicher in Afghanistan. Ihr Mann Sayed ist Dichter. Er liebt seine Heimat, beschreibt deren Geschichte und Landschaften, rühmt die Frauen und Mütter – und kann nicht schweigen zu dem, was sich politisch tut. Als 1992 schon einmal ein Islamischer Staat gegründet wurde, sah Sayed, wie die neuen Machthaber die Bücher verbrannten. Jetzt ist es wieder soweit, dass ein falsches Wort fatal sein kann. Viele seiner Texte hat er in einem Buch veröffentlichen können, ein zweites Buch hat er mit der Hand geschrieben. Wenn er daraus liest, ist zu spüren, wie sehr er die Sprache und auch die Menschen liebt. Dort, wo er herkomme, kenne ihn jeder, sagt Angeza. Das habe das Leben für ihn zuletzt gefährlich gemacht. Die Taliban waren nah, auch in der eigenen Familie.

Engagiert für Geflüchtete unterwegs: die Burbacher Integrationsbegleiterin Susanne Riderer. 
Engagiert für Geflüchtete unterwegs: die Burbacher Integrationsbegleiterin Susanne Riderer.  © Werner Riderer | Werner Riderer

Susanne

Die Namen von Angeza, Bashir, Sofia, Nasrin und Sayed, ihre Geburtsdaten und weitere wichtige Informationen finden sich im Notizbuch von Susanne Riderer. Die Integrationsbegleiterin koordiniert die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe in Burbach. Sie erklärt und vermittelt, hört zu und hilft, sie tut, was sie kann, und das ist viel und doch nie genug. Es fehlt an geeignetem Wohnraum, an Sprachkursen, Schul- und Kitaplätzen; gebraucht würden mehr ehrenamtliche Kräfte, zum Beispiel für die Einrichtung einer Art Vorschule. Susanne sieht hin und geht hin – und fährt. Im Monat sind es viele Hundert Kilometer, die sie für die und mit den Geflüchteten unterwegs ist: zum Kinderarzt, zur Ausländerbehörde, zum Volkshochschulkurs, bei Notfällen oder Stress in einer Unterkunft. Hätte sie mehr Zeit, würde sie am liebsten stundenlang mit geflüchteten Kindern malen. Ihr Motto: „Einfach machen – es könnte ja gut werden.“

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