Netphen. Netphen ist in diesem Jahr um einen Ortsteil größer geworden – von Integration der Geflüchteten kann keine Rede mehr sein. Ein Alarmruf.

479 Geflüchtete hat die Stadt Netphen in diesem Jahr neu aufgenommen – zumindest war das der Stand am 29. November, als Anna Nell und ihr neuer Kollege Mükkeren Taspinar Bilanz für den Sozialausschuss gezogen haben. Auch diese Zahl ist längst überholt – die Sozialarbeiter sprechen von einer „massiven Dynamik“: Netphen hat in den vergangen Monaten Menschen in der Größenordnung eines weiteren Ortsteils aufgenommen.“ Ein Ortsteil von der Größe irgendwo zwischen Nenkersdorf und Eschenbach mit einem großen Anteil traumatisierter Menschen.

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„Die jetzige Situation ist nicht vergleichbar mit dem Zeitraum um das Jahr 2015“, betont Anna Nell in ihrem Bericht. Damals habe es aus deutscher Sicht „nur“ die Flüchtlingskrise gegeben. Nun kommen Krieg, Corona, Klima- und Energiekrise dazu. „Integrationsarbeit, wie sie gesellschaftlich und politisch gewollt ist, kann in der momentanen Situation nicht stattfinden“, heißt es in dem Überlastungsbericht aus dem Sozialamt. „Die Einzelfallberatung muss zusehends hinter administrativen Aufgaben zurückstehen.“ Die generelle kommunale Versorgungsleistung (Unterbringung, Leistungsgewährung, Gesundheit, Beratung und Betreuung) werde ihrem Anspruch der hochwertigen „Vollversorgung“ nicht mehr gerecht und „auf das Befriedigen rudimentärer Bedürfnisse reduziert“. Diese Versorgungsleistung sei die tägliche Arbeit der Mitarbeitenden innerhalb des Fachbereiches, „die sich nun auch dem qualitativen Dilemma stellen müssen, dass diese Arbeit zunehmend an sinnstiftender Wertigkeit verliert “.

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Wohnen

„Ein Abmildern des Leidensdrucks durch den Verweis auf die Möglichkeit des Umzugs in privaten Wohnraum ist nahezu obsoletgeworden. Familien melden hier besonders häufig Stress und Konflikte zurück und fordern von der Sozialarbeit beständig andere Unterbringungsformen, die schlicht nicht vorhanden sind“, heißt es in dem Bericht.

Neben Familien mit fünf und mehr Kindern und alleinerziehenden Mütter mit Kindern kommen auch psychisch erkrankte Menschen und Menschen „mit exzessivem Substanzabusus“, heißt es in dem Bericht. „Hier müssen immer wieder Einzelbelegungen realisiert werden und für Menschen mit Pflegebedarf und/oder motorischen und kognitiven Einschränkungen müssen Belegungen mit Barrierefreiheit gefunden werden – und diese sind endlich .“

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Es gibt 19 Gemeinschaftsunterkünfte, 18 städtische Gebäude und ein privat angemietetes Gebäude, in denen größtenteils Geflüchtete untergebracht sind. Diese Notunterkünfte verteilen sich auf acht Ortsteile. Die ehemalige Tagesklinik wurde seit 29. August mit Geflüchteten belegt. Mit 72 Bewohnerinnen und Bewohnern ist das Haus seit 9. November voll. Bereits im April war die Nutzung der Georg-Heimann-Halle als weitere Notunterkunft vorgeplant worden, die Belegung begann am 17. November. In der Halle wurden 15 Abteile mit jeweils vier Betten abgetrennt. An den Seiten gibt es eine Küche und einen Spielraum für Kinder, das Essen wird ins Foyer gereicht. Es sind noch Plätze frei – und die bleiben auch. Aktuell habe die Stadt ihre Aufnahmeverpflichtung zu über 100 Prozent erfüllt, sagt Anna Nell: „Dieses Jahr kommt niemand mehr.“

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Gesundheit

„Es werden immer wieder Personen ohne Tuberkulose-Ausschluss mittels Röntgen-Thorax aus den Landeseinrichtungen zugewiesen. Minderjährige Kinder U16 erreichen uns generell ohne Ausschlussverfahren mittels Bluttest. Man darf hier fragen: Wie kann das sein?“ Die Stadt müsse sich darauf verlassen können, dass geflüchtete Personen, die ihr zur Aufnahme zugewiesen werden, „einen Gesundheitsstatus vorweisen können, der eine gemeinschaftliche Unterbringung erlaubt“ – also frei von ansteckenden Krankheiten. Zudem erfolge keinerlei Überprüfung des Masernschutzes. „Unterbringung, Beschulung sowie der Besuch des Kindergartens könnten sehr viel schneller und sicherer anlaufen, wenn bereits auf Landesebene der Impfstatus überprüft würde.“

Die kreisweite gynäkologische, pädiatrische und psychotherapeutische Versorgungsleistung sei angespannt. Vielfach würden nicht nur lange Wartezeiten zurückgemeldet, sondern auch, dass Praxen überhaupt keine neuen Patienten aufnehmen.

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Alltag

Ankommen: Belastend wirkt, dass Personen die Landeseinrichtungen an den Transfertagen spät verlassen und erst nach Dienstschluss in Netphen ankommen. „Es wurde hier bereits angeregt, Personen spätesten um acht Uhr morgens loszuschicken. Mit ÖPNV dauert die Fahrt mitunter sechs Stunden.“ In Netphen muss dann die eigentlich für Notfälle vorgehaltene Rufbereitschaft die Ankommenden aufnehmen.

WLAN: Nach wie vor werden ukrainische Kinder zusätzlich via Onlineunterricht aus dem Heimatland unterrichtet, heißt es in dem Bericht. Die Gemeinschaftsunterkunft in der ehemaligen Tagesklinik wurde erste Gemeinschaftsunterkunft mit WLAN auf allen Etagen ausgestattet.

Müll: Dass Müll in Flüchtlingswohnungen nicht richtig getrennt werde, ist immer wieder Thema in den Nachbarschaften. Das Problem bestehe in jedem Hotelzimmer, jedem Wohnheim und jeder WG, stellen die Sozialarbeiter klar: „Es ist kein Parameter für ein gescheitertes Ankommen oder gar Ausdruck nicht vorhandener Integrationsfähigkeit“.

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