Netphen. Sozialarbeiterin Anna Nell begleitet in Netphen Geflüchtete durch den Alltag. Corona hat den Druck vergrößert.

Eine Kiste mit Holzspielzeug, Bilderbücher, Sitzgelegenheiten. Auf der anderen Seite des Schreibtischs: Zwei Kindersitze, ein Kinderwagen. Und oben im Regal: zwei Schulranzen. Auf dem Tisch zwei Monitore, einer zur Seite der Besucher gedreht, um ein Übersetzungsprogramm anzuzeigen. Niemand, der hier Rat sucht, hat von Geburt an Deutsch gelernt. Anna Nell, deren Arbeitsplatz im Netphener Rathaus eingerichtet ist, ist Sozialarbeiterin. Ihr Auftrag: Geflüchtete, die in Netphen wohnen und Unterstützung brauchen, durch den Alltag zu begleiten. Eine Glasscheibe trennt den Bereich für die Besucher von ihrem Tisch, um den auch niemand herumgehen kann. Die Welt, in der Anna Nell arbeitet, ist nicht heil.

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29 Personen im Jahr 2020, 21 bisher in diesem Jahr: Viele Menschen, die neu ankommen, sind schon bis zu einem Jahr in Landeserstaufnahmeeinrichtungen gewesen, ohne dass ihr Asylverfahren abgeschlossen wurde. „Die ankommenden Familien waren sozial erschöpft und in noch größerem Maße enttäuscht über die erneute Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft“, schreibt Anna Nell in ihrem Jahresbericht, der jetzt dem Sozialausschuss vorgelegt wurde.

Das Wohnen auf engem Raum mit minimaler Privatsphäre zermürbt, Auseinandersetzungen mit den Mitbewohnern über alltägliche Fragen wie Lärm im Haus oder Sauberkeit in der Küche zehren an den letzten Kräften. Dabei brauchen die Menschen so nötig Energie: Die Kinder müssen in die Kita oder die Schule, die Erwachsenen müssen sich um Sprachkurs und, so sie die Erlaubnis haben, um Sprachkurs und Arbeit kümmern.

Ankommen

Wo Kinder sind, kümmert sich Anna Nell zuerst um die Einschulung. „Das ist ein Anfang, das hat Strahlkraft.“ Dafür stehen auch die Ranzen im Regal. „Die letzten zwei“ – Spenden dringend erwünscht. Auch ein Aktionstag zum Schultütenbasteln wäre jetzt wieder fällig. 

Anna Nell berichtet aus dem Alltag: Die Menschen kommen spontan, bringen manchmal eine Tüte ungeöffneter Post mit, deren Inhalt sie oft nicht verstehen. Jobcenter, Krankenkasse. Ratenzahlungsverpflichtungen, Handyverträge, zum Jahresende Nebenkostenabrechnungen. In Zeiten der Pandemie ging das nur mit Terminvereinbarung, oft wurden auch Fotos von Briefen mit dem Handy hin- und hergeschickt, wenn es das Prepaid-Guthaben auf der anderen Seite zulässt. „Meine schöne offene Tür ist weggefallen“, bedauert Anna Nell, „die Menschen brauchen das unkomplizierte Aufsuchen.“

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Denn Wege, die zu umständlich sind, werden im Zweifelsfall nicht gegangen. Die Sozialarbeiterin verwendet den Begriff „Anstrengungsverweigerung“. Sichtbar wird die in der Lethargie, Dinge, die anscheinend nicht zu ändern sind, am Ende hinzunehmen. Die Gemeinschaftsunterkunft, die sie nie wollten, wird zum dauerhaften Zuhause. „Der Kosmos, in dem sie sich bewegen, genügt ihnen. Sie sind dann nur schwer erreichbar.“

Im schriftlichen Bericht für den Sozialausschuss beschreibt Anna Nell Eskalationen: „Die Berichterstatterin sah sich in diesem Jahr mit einer gestiegenen Lethargie konfrontiert, die mitunter in Aggression umschlug. (..) Im Frühjahr zündete ein Bewohner in einer psychischen Ausnahmesituation Gegenstände vor seiner Gemeinschaftsunterkunft an und vandalierte auch im Inneren. Im Sommer sprang ein Bewohner aus dem zweiten Obergeschoss seiner Unterkunft und verletzte sich.“

Viele können in Privatunterkünften wohnen

In Netphen werden derzeit 197 Personen als Asylsuchende aufgenommen. Davon sind 70 minderjährig, 40 davon im schulpflichtigen Alter. Hinzu kommen 211 Personen, denen nach Anerkennung ihres Asylantrags Netphen als Wohnsitz zugewiesen worden ist.95 Personen mit Fluchthintergrund leben insgesamt in Gemeinschaftsunterkünften, darunter 74 leistungsberechtigte Personen, für deren Versorgung die Stadt zuständig ist. 108 Asylsuchende hat die Stadt in Privatunterkünften untergebracht.

Arbeiten

Manche dürfen arbeiten und haben auch einen Job. Die Arbeitserlaubnis kann weg sein, wenn ein Asylverfahren mit der Ablehnung endet und die Aufenthaltsgestattung durch eine Duldung ersetzt wird, zum Beispiel, weil die betroffene Person ihre Identität nicht nachweisen und deshalb nicht abgeschoben werden kann. Für die Betroffenen ist das ein Absturz ins Bodenlose. Deshalb tun sie oft alles, um die Arbeit zu behalten. „Viele Arbeitsverhältnisse würde ich als prekär bezeichnen“, sagt Anna Nell vorsichtig, „da muss man schauen, wie es den Menschen damit geht.“

Besonders besorgt schaut sie auf junge Menschen, die eine Berufsausbildung machen: Der Druck, auf jeden Fall zu bestehen, auch wenn sich die Berufswahl als falsch erweist, ist riesig. „Sie beißen die Zähne zusammen, zahlen dafür einen sehr hohen Preis.“ Es sind übrigens in Familien die Männer, die arbeiten gehen, während die Frauen, wenn sie Mütter sind, zu Hause die Kinder versorgen. Sie sind dann auch für einen Sprachkurs nicht erreichbar. „Das wird gerade sichtbarer.“ Anna Nell wünscht sich Integrationsangebote, die tatsächlich auch angenommen werden. „Die Bedingungen vor Ort müssen viel mehr in den Fokus genommen werden.“

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Leben – mit der Pandemie

Dass Corona die Situation der Geflüchteten noch mehr belastet, versteht sich. Homeschooling in der Gemeinschaftsunterkunft ist ein Unding. „Kinder haben dort keinen Rückzugsraum. Und auch keine Oma und keinen Opa, der ihnen ein Laptop überlässt.“ Wo eben möglich, hat Anna Nell versucht, die Kinder in der Notbetreuung der Schulen unterzubringen. Denn Distanzunterricht funktioniert bei dieser Gruppe nicht, so die nüchterne Erkenntnis. „Manche Kinder sind total abgetaucht.“

Gelegentlich mussten ganze Gemeinschaftsunterkünfte unter Quarantäne gestellt werden. Das wurde akzeptiert, die Bewohner gingen rücksichtsvoll miteinander um, trugen Masken und hielten Abstand. Ausnahmen gab es aber auch: Quarantäneverstöße, Missachten des Besuchsverbots. „Es war schwer, das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen nicht zu verletzen.“ Anna Nell schreibt in ihrem Bericht für den Sozialausschuss über „Personen, die sich auf einmal sozial isoliert sahen und von den Bewohnenden auch nach Genesung geschnitten wurden“. Die Sozialarbeiterin versuchte zu vermitteln, dass „eine Infektion mit dem Virus nicht mit Nationalität oder Religion in Verbindung stehe“.

Unterstützen

Anna Nell ist seit 2018 bei der Stadt Netphen. Das Ziel ihrer Arbeit formuliert sie im Gespräch ganz einfach: „Wir wollen, dass alle glücklich sind.“

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