Siegen-Wittgenstein.

Dr. Stiebeling übersetzte den hebräischen Spruch eigenwillig, als ihn Nachbarn nach der Bedeutung der Inschrift fragten, die auf der Rückwand der Synagogen-Ruine freigelegt waren: „Jehova wird die Tat schon rächen.“ Hugo Herrmann selbst, der diese Episode Jahrzehnte später Klaus Dietermann erzählte, dem heutigen Leiter des Aktiven Museums, hatte das nicht mehr mitbekommen.

1. 10. November, morgens:
Verhaftungen

Der Sohn des Gemeindevorstehers Eduard Herrmann war am Morgen des 10. November 1938, wie die anderen Mitglieder der Siegener Synagogengemeinde und die anderen jüdischen Bürger im Landkreis, von der Gestapo verhaftet worden. Ein Bus brachte sie nach Dortmund. Und erst als von dort der Zug ins Konzentrationslager abging, erfuhr Herrmann, dass die Synagoge am Obergraben brannte.

Die Schüsse, die der polnische Jude Herschel Grynszpan am 7. November auf den deutschen Botschaftssekretär vom Rath in Paris abgegeben hatte, hatte das Nazi-Regime zum Anlass genommen, eine „Reichskristallnacht“ zu inszenieren. Synagogen brannten, Schaufensterscheiben der Geschäfte klirrten, die noch jüdische Eigentümer hatten. Der vorgeblich spontane, für den 9. November angeordnete Volkszorn ließ sich im Siegerland allerdings Zeit.

2. 10. November, mittags:
Die Brandstiftung

Heinrich Lumpe war Lehrer und erst seit kurzem in Siegen. Dass es hier eine Synagoge gab, die er in Brand zu setzen hatte, erfuhr der SS-Hauptsturmführer angeblich erst spät. Er entschied sich, den „spontanen“ Anschlag um einen Tag zu verschieben — damit das Gotteshaus vor großem Publikum am helllichten Tag brannte. 105 Mitglieder hatte die Gemeinde gehabt, als sie 1903 den Grundstein zu ihrem Gotteshaus legte, das 1904 eingeweiht worden war. Lumpe bestellte Wehrmachtsbenzin aus Hilchenbach, informierte Polizei und Feuerwehr und befahl die Brandstifter, SS-Leute in Zivilkleidung, für Donnerstag 11.30 Uhr an den Obergraben. Die Polizei sperrte die Brandstelle ab, die Feuerwehr beschränkte sich darauf, benachbarte Wohnhäuser und das Krankenhaus vor den Flammen zu schützen.

3. 10. November, abends:
Klirrende Scheiben

Mally Herrmann, die in Siegen zurückgebliebene Ehefrau von Eduard Herrmann, rief am Abend mehrfach die Polizei, als die Scheiben ihres Hauses an der Giersbergstraße klirrten. Schließlich wurde ein Beamter als Wache für den Rest der Nacht vor dem Haus abgestellt. Klaus Dietermann berichtet über das Gespräch mit Hugo Herrmann, dem 1993 verstorbenen letzten Überlebenden der jüdischen Gemeinde: „Herr Herrmann führt die Maßnahme, aber auch, dass es nicht zu anderen Ausschreitungen gegenüber Siegener Juden gekommen ist, allein als ein Verdienst des damaligen Oberbürgermeisters Fißmer an, der eine schützende Hand über die Siegener Juden hielt, wo immer es ihm möglich war.“

4. 11. November:
Gedruckte Lügen

„Das Volk hat geantwortet“, log die Siegener Nationalzeitung in ihrer Freitagausgabe. „Hunderte, ja Tausende von Volksgenossen standen auf den anliegenden Straßen, als endlich der Judentempel im lichten Feuermeer verbrannte.“ Der Terror, der vor 75 Jahren mit der Pogromnacht nur einen weiteren Höhepunkt erreichte, ging weiter – bis zur Ermordung auch der jüdischen Siegerländer.

5. Das Ende:
Arisierung und Exil

Im Dezember 1938 wurden Hugo Herrmann und sein Vater aus dem KZ Sachsenhausen entlassen. Eduard Herrmann wurde gezwungen, sein 1897 eröffnetes Konfektionsgeschäft in der Marburger Straße an den Bonner Kaufmann Esders zu „verkaufen“ – eine von vielen „Arisierungen“, die die späteren Inhaber gelegentlich unfreiwillig dokumentierten, indem sie es nicht unterließen, 1988 ihr 50-jähriges Geschäftsjubiläum zu feiern. Der Familie Herrmann gelang die Auswanderung, Eduard Herrmann allerdings kam nicht mehr in Israel an – er starb 1940 im Hafen von Haifa. Hugo Herrmann lebte viele Jahre im späteren Siegen-Wittgensteiner Partnerkreis Emek Hefer, bevor er wieder nach Siegen zurückkehrte.

6. 22. Oktober 1948:
Urteil des Schwurgerichts

Drei der sechs ermittelten Brandstifter wurden vom Siegener Schwurgericht „wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung“ verurteilt: Heinrich Lumpe zu einem Jahr und zwei Monaten Zuchthaus, zwei Mitangeklagte zu je einem Jahr Zuchthaus. Nur einer von ihnen verbüßte tatsächlich einige Monate der Freiheitsstrafe, Lumpe selbst kaufte sich mit einer Geldstrafe von 150 Mark frei. Er sei das „törichte Werkzeug anderer Kräfte“ gewesen, fand das Gericht.