Müsen. Uwe von Seltmann schreibt: „Wir sind da.“ Hilchenbach, Kreuztal und Siegen kommen auch vor in dem Buch über 1700 Jahre jüdisches Leben.

Uwe von Seltmann kommt aus Müsen. Lehrersohn, der in Kreuztal das Gymnasium besucht hat. Studierter evangelischer Theologe, der als Publizist und Filmemacher unterwegs ist, lange in Leipzig und in Krakau lebte. „Karlebachs Vermächtnis“ ist ein früher Roman, der von der Entdeckung des „Judenhauses“ im eigenen Dorf und von der Verstrickung der heutigen Lokalprominenz in die Verbrechen des Dritten Reichs handelt. Damit war das Thema vorgegeben, in dem er in den folgenden 20 Jahren zum Experten wurde. 2021 ist Uwe von Seltmann nicht nur in Deutschland gefragt. Der 56-Jährige hat „Wir sind da“ geschrieben – das offizielle Buch zum Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.

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Wie alles in Müsen beginnt

„Karlebach“ hat Uwe von Seltmann in „Merklinghausen“ spielen lassen – den Namen trägt auch eine Wüstung bei Müsen. Das neue, große Buch ist Lese-, Geschichten- und Geschichtsbuch zugleich: Es stellt Menschen vor, dokumentiert Geschichte im römischen Germanien, in den germanischen Frankenreichen, im mittelalterlichen Deutschland, im 19. und 20. Jahrhundert, streitet mit sich selbst über die Fragen, die mit jüdischem Leben in Deutschland zu tun haben. Und ist alles andere als bloß Auftragsarbeit.

Natürlich kommt seine Zeit am Kreuztaler Gymnasium vor, als es noch den Namen des Ehrenbürgers und Kriegsverbrechers Friedrich Flick trug – und das damals, in den frühen 1980er Jahren noch vergebliche Aufbegehren der Schüler und Schülerinnen gegen diese Namensgebung. Und wenn Uwe von Seltmann Juden aus Deutschland vorstellt, dann kommt auch ein Mann aus dem Sauerland vor: ein kleines Porträt von Alon Sander, dem aus Israel nach Deutschland, in das Land seiner Eltern, zurückgekehrten Juden, der viele Jahre Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Siegen war. Schließlich ist da noch Dr. Matthias Schreiber, gebürtig aus Fellinghausen, evangelischer Theologe, stellvertretender Pressesprecher des Landtagspräsidenten – und Vorsitzender des Vereins 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Er hat Uwe von Seltmann gefragt, ob der das Buch schreiben wolle. Klassenkameraden am Friedrich-Flick-Gymnasium. „Latein und Religion hatten wir zusammen.“

Autor und Buch

Uwe von Seltmann (56) ist in Müsen geboren, hat in Stift Keppel Abitur gemacht und in Erlangen, Tübingen und Wien evangelische Theologie studiert. Er war Chefredakteur der evangelischen Zeitung „Der Sonntag“ in Leipzig.

Uwe von Seltmann, Wir sind da!, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, Homunculus Verlag, Erlangen.

Wie Mestri Corona-Exil wird

Mestri ist, so beschreibt es Uwe von Seltmann, ein Drei-Häuser-Dorf bei Grožnjan/Grisignana in Istrien. „Hier lebt eine italienische Minderheit, sodass die Ortsbezeichnungen zweisprachig sind: kroatisch und italienisch. Mestri ist seit gut zehn Jahren von jeweils August bis Ende Oktober meine Schreibklausur – mit dem Höhepunkt eines jeden Jahres: der Olivenernte.“ Und jetzt auch, wie er es nennt, „Corona-Exil“. Als sie 2020 im August ankamen, hatten Uwe von Seltmann und seine Frau Gabriela ihre Wintersachen dabei. „Wir waren sicher, im November kommt der Lockdown.“

Es sollte ein harter, kalter Winter werden, den erst jetzt ein milder Frühling ablöst. „Die Straßencafés sind wieder geöffnet, das ist ein Gewinn an Lebensqualität.“ In Mestri, im ewigen Lockdown, hat Uwe von Seltmann gearbeitet. Vorher, solange es eben noch ging, hat er Bibliotheken aufgesucht, recherchiert. Weiteres Material ließ er aus Antiquariaten anliefern, „kistenweise“. Ein paar Gesprächspartner für die Porträts konnte er noch besuchen, mit anderen hat er über Zoom gesprochen. Fast ein Dreivierteljahr lang habe er 16 bis 18 Stunden am Tag gearbeitet, erzählt er. Aufstehen morgens um 4, auch an den finstersten Wintertagen. „Das war ein unglaublicher Kraftakt. Aber das Buch musste ja fertig werden.“

Wie Juden sind

André Herzberg wird vorgestellt, Sänger der DDR-Band „Pankow“. Arno Lustiger, der mit Wolf Biermann befreundet ist. Historische Persönlichkeiten werden porträtiert: Anne Frank, das tapfere jüdische Mädchen, die Tagebuch führte, bis sie 1944 in ein KZ verschleppt wurde. Bertha Pappenheim, die 1859 in Wien geborene Frauenrechtlerin. Moses Mendelssohn, der Philosoph, geboren 1729, Großvater des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Zu Wort kommen der Rapper Ben Salomo, der Politiker Daniel Cohn-Bendit. Einen Platz im Buch haben der Autor Wladimir Kaminer, der Filmproduzent Arthur Brauner, Albert Einstein und Rosa Luxemburg. „Judentum hat viele Gesichter“, sagt Uwe von Seltmann. Jüdisch – das sind die Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR. Jüdisch – das ist der Inbegriff deutscher Romantik, die von Heinrich Heine besungene Loreley. „Das Judentum gehört zu Deutschland dazu.“ Juden – das sind aber auch die Opfer der Schoah. Das macht es so schwer, „normal“ über Juden in Deutschland zu sprechen. „Es ist und bleibt eine Gratwanderung“, weiß Uwe von Seltmann, „diese dunkle Wolke schwebt über der Gegenwart. Und das wird auch so bleiben.“

Was 321 heute bedeutet

Am 11. Dezember 321 erlässt der römische Kaiser Konstantin ein Edikt an seinen Statthalter in Köln, das Juden verpflichtet, öffentliche Ämter zu übernehmen. Das ist die erste urkundliche Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Deutschland, dem einzigen Land in Europa, in dem seit der Antike bis heute Juden leben. Dass 1700 Jahre danach dieses Datum Anlass für ein Jubiläumsjahr wird, findet Uwe von Seltmann gut. So biete sich die Gelegenheit, „etwas zu tun gegen wachsenden Antisemitismus“, gegen „grenzenlose Unwissenheit“. Dass der 1700-Jahre-Verein einen Nerv trifft, zeigt die Entwicklung des Projekts: Mittlerweile stehen mehr als 1000 Veranstaltungen unter dem Zeichen des Jahrestages. „Der Gedanke ist auf offene Türen gestoßen.“

Uwe von Seltmann beobachtet die „Querdenker“, die mit einem Davidstern gegen Corona-Maßnahmen protestieren, die die Widerstandskämpferin Sophie Scholl für sich vereinnahmen und Corona als „Weltverschwörung“ identifizieren. „Ein typisch antisemitischer Topos – das macht mir große Sorgen.“ Wobei Uwe von Seltmann das sicher nicht als letztes Wort stehen lassen mag. Vielleicht, sagt er, gelingt die Annäherung zu den Juden in Deutschland ja doch: „Im Grunde bin ich ein optimistischer Mensch.“

Wie Familie eine Rolle spielt

Uwe von Seltmann widmet sein Buch den österreich-ungarischen Seltmanns und den hessisch-westfälischen Marburgers, „deren Leben in der Schoah vorzeitig ein Ende gesetzt wurde“. Auch in der eigenen Verwandtschaft ist der Müsener auf Tabus gestoßen. „Ich forsche und finde immer mehr heraus.“ Es gab wohl nicht nur auf der mütterlichen Seite jüdische Vorfahren, sondern auch auf der väterlichen – tatsächlich eben nicht nur den SS-Mann, der sein Großvater war und über den er in „Todleben“ geschrieben hat, sondern auch den Oberrabbiner, der in Auschwitz ermordet wurde.

Eine Entdeckungsreise in Familiengeschichten, die einmal ganz alltäglich in einer Jugend angefangen hat, in der die Folknights im Ferndorfer Jugendzentrum Begegnungen auch mit jüdischer Musik ermöglicht hat. Eine Reise durchaus auch im Wortsinn: Uwe und Gabriela von Seltmann, die gebürtige Polin, haben ihre Wohnung in Krakau schon vor zwei Jahren aufgelöst, haben noch ein Apartment in Warschau behalten, um Polen bald ganz zu verlassen – für sie ist das sich politisch verändernde Land kein Zuhause mehr. „Wir wollten spätestens im Herbst 2020 umsiedeln.“ Dann kam Corona. Und Mestri. Die nächste Station? Berlin, vielleicht. Oder Müsen.

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