Walpersdorf. Willi Müller wurde nur 16 Jahre alt, Antonie Pawlaczyk war 45, als sie Opfer der Nazi-Krankenmorde wurden. Walpersdorf erinnert an sie.
Willi Müller und Antonie Pawlaczyk waren krank. Er litt an Epilepsie, sie – vermutlich – an Schizophrenie. Beide wurden Opfer der von den nationalsozialistischen Gewaltherrschern begangenen Krankenmorde. Zwei Stolpersteine werden in Walpersdorf an sie erinnern. Sie werden am Montag, 24. Oktober, verlegt.
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Im Rahmen der Recherchen für die Chronik zur 675-Jahrfeier von Walpersdorf im Jahr 2019 wurde vom damaligen Chronik-Team auch die Zeit des Nationalsozialismus näher beleuchtet. Bald stellte sich heraus, dass es auch in Walpersdorf zivile deutsche Opfer des NS-Terrorregimes gab. Hierzu gehören neben den Opfern von Zwangssterilisationen nach dem am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch die im Rahmen des „Euthanasie“-Programms mit dem Decknamen „Aktion T4“ ermordeten Kranken und Behinderten.
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Willi Müller * 1925, † 1941
Im mittelhessischen Hadamar starb am 22. August 1941 Willi (andere Schreibweise: Wilhelm) Müller aus Walpersdorf. In einem Flügel des Hauptgebäudes der Landesheilanstalt Hadamar auf dem Mönchberg war 1940 die sechste NS-Tötungsanstalt des Deutschen Reichs für das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm eingerichtet worden. Am 24. August 1941, zwei Tage nach Willi Müllers Ermordung, gab Adolf Hitler seinem Begleitarzt Karl Brandt und Reichsleiter Philipp Bouhler die mündliche Weisung, die „Aktion T4“ zu beenden und die „Erwachsenen-Euthanasie“ in den sechs Tötungsanstalten einzustellen. Die sogenannte Kinder-Euthanasie wurde jedoch fortgesetzt, ebenso die dezentrale Tötung behinderter Erwachsener in einzelnen Heil- und Pflegeanstalten durch Nahrungsentzug sowie Verabreichung von Luminal oder Morphium-Scopolamin.
Willi Müller war das zweitälteste von 14 Kindern des Fabrikarbeiters Martin Müller und seiner Ehefrau Anna Hermine, geb. Werthenbach. Er wurde am 28. April 1925 in Walpersdorf geboren und zwei Tage später katholisch getauft. Willi litt unter epileptischen Anfällen, damals als „Fallsucht“ bezeichnet, einer heutzutage gut behandelbaren Krankheit. Damals jedoch führte sein Krampfleiden dazu, dass er nicht eingeschult wurde. Als sein Vater ihn nach der angeordneten Anstaltsunterbringung in der Provinzial-Heilanstalt Marsberg aus dem Haus Nr. 21 im Oberdorf (Haus „Maaches“, heute Hirschweg 4) zur Hauptstraße zu dem wartenden grauen Bus brachte, soll der damals 9 Jahre alte Willi laut geweint und immer wieder gerufen haben: „Papa, Papa, mich nicht fortbringen.“
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Seine Eltern durften ihn zwar in den folgenden Jahren in Marsberg besuchen, aber nicht wieder - auch nicht zeitweise - mit nach Hause nehmen. Um ihm den Abschiedsschmerz etwas zu lindern, erhielt Willi von seinen Eltern am Ende der Besuchszeit immer ein mitgebrachtes Stück Fleischwurst, die er doch so gerne aß. Da kein Eintrag im Aufnahmebuch der Landesheilanstalt Weilmünster erhalten geblieben ist, bleibt offen, wann er nach Weilmünster verlegt worden ist. Die Verlegung in eine solche Zwischenanstalt diente hauptsächlich der Verschleierung der bereits beschlossenen „Vernichtung des unwerten Lebens“.
Am 22. August 1941 wurde Willi Müller nach Hadamar verlegt, wo er noch am Ankunftstag in der Gaskammer starb. Nach Willis Ermordung in Hadamar erhielten seine Eltern eine Urne, die angeblich seine Asche enthielt, und ein Begleitschreiben, in dem eine fadenscheinige Todesursache wie z.B. „Lungenentzündung“ genannt wurde. Die Urne wurde im Grab eines seiner drei bereits im Kleinkindalter verstorbenen Geschwister in Walpersdorf beigesetzt. Das Leid der Eltern wurde nach Willis Ermordung noch größer, als 1944 ihr ältester, am 6. Mai 1924 geborener Sohn Josef im Alter von 20 Jahren als Soldat vermisst wurde und schließlich nach jahrelangen vergeblichen Anstrengungen, sein Schicksal aufzuklären, für tot erklärt werden musste.
Von Willi Müllers Geschwistern lebt heute nur noch seine in Netphen wohnende, zwei Jahre nach seiner Ermordung geborene jüngste Schwester Anita, verheiratete Diehl (Jahrgang 1943).
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Antonie Pawlaczyk * 1897, † 1942
Außerdem starb Antonie Pawlaczyk aus Walpersdorf, geboren am 1.1.1897 in Golina/Posen, am 23. April 1942 in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Eichberg für geistig und psychisch Erkrankte im hessischen Eltville-Erbach. Die angebliche Diagnose lautete: „Spaltungsirresein (frühere Bezeichnung für Schizophrenie), Herzstillstand“. In den Beständen des Archivs des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen betreffend die Einrichtung Eichberg befindet sich keine Patientenakte von Antonie Pawlaczyk. Im Aufnahmebuch Frauen der Provinzialheilanstalt Warstein ist belegt, dass Antonie Pawlaczyk sich dort vom 26. Juli 1927 bis zu ihrer Verlegung nach Eichberg am 4. August 1941 aufhielt.
Gemäß dem Einwohnerbuch für die Stadt Siegen und die Kreise Siegen und Altenkirchen 1927/1928 wohnte das Dienstmädchen Antonie Pavazik in Walpersdorf im Haus Nr. 37. Es ist davon auszugehen, dass dies nur eine andere Schreibweise des Namens des vorgenannten „Euthanasie“-Opfers ist. Im heute nicht mehr vorhandenen Haus Nr. 37 wohnte damals auch der Milchhändler Wilhelm Meiswinkel. Noch lebende Angehörige von Antonie Pawlaczyk konnten nicht mehr ausfindig gemacht werden.
Die Stolpersteine
Nachdem die seit 2019 geplanten Stolpersteinverlegungen in Walpersdorf mehrfach wegen der Corona-Pandemie und dem daraus resultierenden übervollen Terminkalender von Stolperstein-Schöpfer Gunter Demnig verschoben werden mussten, sollen sie nun als „Eigenverlegung“ durch die Stadt Netphen erfolgen. Die Veranstaltung beginnt um 14 Uhr an der kleinen Parkanlage in Sichtweite des Geburtshauses von Willi Müller im Hirschweg 4 im Beisein seiner Schwester Anita Diehl und ihres Ehemannes Paul Diehl. Anita Diehl hat die Stelle selbst mit ausgesucht, an der hier der „Stolperstein“ für ihren Bruder verlegt werden wird. Auch Willi Müllers Nichte Ruth Schäfer, die heute in dem in der Vergangenheit umgebauten Haus Hirschweg 4 wohnt, wird gemeinsam mit ihrem Ehemann Winfried Schäfer anwesend sein.
Anschließend wird der „Stolperstein“ für Antonie Pawlaczyk dort, wo sich auch die Edelstahlskulptur „Glockenspiel“ des Walpersdorfer Künstlers Rudolf Scholz befindet, an der Einmündung des Märzbecherwegs in die Wittgensteiner Straße verlegt. Von hier aus ist die Stelle gut einsehbar, an der sich früher das Wohnhaus von Antonie Pawlaczyk befunden hat. Bürgermeister Paul Wagener und Rüdiger Bradtka, der Ortsbürgermeister von Walpersdorf, werden sprechen, Anna Neuser wird ein Lied vortragen.
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