Siegen. . Ausstellung und Tagung zu den Krankenmorden der Nazis im Unteren Schloss und im Museum für Gegenwartskunst in Siegen.
Auf einem Kalenderblatt halt Wilhelm Fries 1980 fünf Namen notiert: „Euthanasie-Opfer Weidenau“. Für Traute Fries, seine Tochter, war das der Ausgangspunkt für Nachforschungen. „Es ist mir ein Anliegen, dass der Menschen gedacht wird“, sagt die SPD-Stadtverordnete, die auch dem Vorstand des Aktiven Museums Südwestfalen angehört. „Es wurde ja nie darüber gesprochen.“ Dass sich auch jetzt, auf den Aufruf für den Fachtag zur Ausstellung über die Krankenmorde, Zeitzeugen nicht meldeten, wundert die Geisweiderin nicht: Der Makel der vermeintlichen „Erbkrankheit“ drängt auch die Nachkommen in die Anonymität. Deshalb übernimmt Traute Fries am Freitag deren Part, wenn im Museum für Gegenwartskunst Berichte von Zeitzeugen auf dem Tagungsprogramm stehen.
Was bekannt ist
An einige Opfer wird Traute Fries erinnern:
Lina Althaus war die erste, für die Traute Fries einen Stolperstein setzen ließ. Mit 32 starb sie in Hadamar, angeblich an einem epileptischen Krampfanfall. „Sie hatte Kinderlähmung“, weiß Traute Fries. Und aus der Krankenakte, die ihr Bruder Rüdiger Fries als Arzt einsehen durfte, weiß sie, dass Lina in Warstein mit Elektroschocks gequält wurde. Der Todestag, der 6. August 1943, deutet darauf hin, dass sie ein Opfer der „wilden Euthanasie“ wurde. 5000 starben in Hadamar wie sie, weil man sie verhungern ließ oder mit der Überdosis eines Medikaments ermordete. Mit Linas Neffen ist Traute Fries konfirmiert worden, ihre Großnichte engagiert sich in einem Verein für Menschen mit Behinderung: „Die haben von dieser Tante nichts gewusst.“
Berta Hoppensack starb am 18. Juli 1941 in einem Keller in Hadamar, der als Gaskammer eingerichtet war. „Nebenan waren zwei Verbrennungsöfen.“ Die Gastwirtsfrau aus Boschgotthardshütten war in einem der 27 Transporte, die im Sommer 1941 aus Westfalen ins hessische Hadamar gingen. Graue Busse einer „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ sammelten die Opfer ein — „T 4“ stand später als Kürzel für die Adresse des Firmensitzes: Tiergartenstraße 4 in Berlin.
Otto Hoppensack, Berta Hoppensacks Sohn, erhängte sich am 16. Juli 1941 in Warstein. Als seine Schwester am 21. Juli die Todesanzeige für ihn aufgab, setzte sie den Namen der Mutter unter die Anzeige – nicht wissend, dass auch sie schon tot war. Helene, weiß Traute Fries, „ist noch 1946 geholt worden.“ Auch sie galt als „verrückt“, wurde in ein Heim gebracht. „Die Situation für Behinderte hat sich auch nach dem Krieg nicht geändert. Sie wurden immer noch unwürdig behandelt.“
Theresia Dornseiffer: Am 5. August, so steht es in der Todesanzeige, starb sie nach langer Krankheit. Eine Lüge: Auch sie wurde am 18. Juli in Hadamar vergast. Die Fälschung des Datums sollte das Verbrechen tarnen.
Rudolf Stähler: „In die Ewigkeit abgerufen“, steht in der Todesanzeige. Der Ferndorfer, nach einem Sturz als Dreijähriger hirnverletzt, wurde zusammen mit Theresia Dornseiffer und Berta Hoppensack, am selben Tag in Hadamar ermordet.
Ludwig W. : Stefan Kummer kürzt den Nachnamen in seiner 2012 vorgelegten Magisterarbeit ab. Er hatte keine Angehörigen gefunden, die das Einverständnis zur Veröffentlichung geben konnten. Wenn es um angebliche Erbkrankheiten geht, „sind die Verwandten vorsichtig“, weiß Traute Fries.
Die Geschwister Stern: Drei der sieben Kinder waren geistig behindert, Albert und Siegfried wurden 1940 im Zuchthaus Brandenburg ermordet. 1939 hatte ihr Vater Herbert Stern, der eine Gärtnerei und einen Gemüsehandel hatte, sich vergeblich für seine Familie um eine Auswanderung in die USA bemüht. Ihr Großvater war der Siegener Synagogenvorsteher Meyer Leser Stern.
Margret Verspohl: Sie hatte das Down-Syndrom, wurde zur „Untersuchung“ abgeholt und am nächsten Tag im versiegelten Sarg nach Ferndorf zurückgebracht. „Man hatte den Eindruck, dass auch den Leuten bewusst war, was geschehen war, aber keiner sagte ein Wort darüber. Wir wagten es auch nicht“, schreibt ihre Schwester in der Dorfchronik.
Paul Gerhards aus Eiserfeld trug nach einem Sturz vom Baum eine Behinderung davon. Er wurde am 22. Februar 1944 in der „Heilanstalt“ Weilmünster ermordet.
Oswald Breitenbach: Auf dem Foto sitzt ein Junge auf einer Kuh, neben ihm stehen Vater und seine Schwester Hildegard, an der Setze in Obersetzen, da wo die Landstraße nach Unglinghausen über den Berg hinaufführt. „Das ist das, was von einem Leben übrig bleibt“, sagt Traute Fries. Der Heimatverein erinnert mit einem Stolperstein an Oswald Breitenbach, der keine 20 Jahre alt war, als er in Lengerich, einem Außenlager des KZ Neuengamme, angeblich an Herzschwäche starb. Die Schule hatte Oswald nicht geschafft. Indem der Meister der Sieg-Herd-Fabrik in Buschhütten dann über ihn sagte, er sei „zu nichts zu gebrauchen“, habe er das Todesurteil gesprochen, sagt Traute Fries.
Was zu tun bleibt
„Mit Sicherheit“, so Traute Fries, gab es noch mehr Krankenmord-Opfer aus dem Siegerland; 14 Namen umfasst eine Liste, die der Weidenauer Psychiatrie-Chefarzt Dr. Heiko Ulrich aus Hadamar mitgebracht hat — „die Forschung nach Angehörigen ist schwierig“. Klaus Dietermann, im vorigen Jahr gestorben, hat „seinem“ Aktiven Museum auch Namen von Zwangssterilisierten hinterlassen. Auch ein Thema, das der Forschung bedarf: „Daran haben wir noch nicht gearbeitet.“
Ausstellung und Fachtagung: „Erfasst, verfolgt, vernichtet“
Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ lautet der Titel der Wanderausstellung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN), die jetzt mit einem umfangreichen Begleitprogramm Station in Siegen macht. Vom 8. November bis 7. Dezember ist sie in der Passage der Teilbibliothek Unteres Schloß (US) der Universität Siegen zu sehen. Sie wird am Donnerstag, 8. November, 18 Uhr im Foyer des Museums für Gegenwartskunst eröffnet. Grußworte sprechen Landrat Andreas Müller, Bürgermeister Steffen Mues und Uni Prorektorin Prof. Dr. Gabriele Weiß. Prof. Dr. Michael Grözinger (Uniklinik Aachen) gibt eine Einführung in die Ausstellung.
Im Tagungsraum des Museums für Gegenwartskunst findet am Freitag, 9. November, 10 bis 15 Uhr eine Fachtagung statt. Die Historikerin Prof. Dr. Sabine Schleiermacher von der Charité in Berlin wird über „Euthanasie und Medizin im Nationalsozialismus“ referieren, Dr. Jan Erik Schulte, Leiter der Gedenkstätte in Hadamar, wird die Fragestellung „Massenverbrechen ausstellen?“ beleuchten und Studierende der Geschichte der Uni Siegen werden ihr Forschungsprojekt zur „Euthanasie“ im Raum Siegen vorstellen.
Die Umsetzung der Wanderausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Historischen Seminars der Universität Siegen, der Universitätsbibliothek, des Kreises Siegen-Wittgenstein, der Sozialen Dienste der Diakonie in Südwestfalen, der AWO Siegen-Wittgenstein/Olpe, der DRK-Kinderklinik Siegen, der Reselve und des Kreisklinikums.