Siegen. Ob mangelndes Personal oder hoher Krankenstand: Die Probleme beim ÖPNV in Siegen sind zahlreich. Wie es nun weitergeht.

Rasant steigender Personalmangel, zahlreiche Schäden an Fahrzeugen, viele Baustellen, erhebliche Mängel in der Infrastruktur: Der Betrieb auf der Schiene ist in den vergangenen Monaten erheblich unter Druck geraten – und Besserung ist nicht in Sicht. Und nicht nur auf der Schiene. Fahrgäste bekommen das immer deutlicher zu spüren, die Qualität des Nahverkehrs leidet.

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Störungen haben im Bahnbetrieb 2022 „in erheblichem Maße“ zugenommen, teilt der für den Personennahverkehr auf der Schiene (SPNV) zuständige Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) mit – darunter immer mehr ungeplante, die den Verantwortlichen Sorge machen. Im Ruhr-Sieg-Netz etwa führten und führen sie zu länger andauernden Einschränkungen wie etwa dem durch die Flutkatastrophe verursachten und inzwischen behobenen Stellwerksschaden oder den immer noch spürbaren Auswirkungen der Betriebsübernahme von Abellio. Dieses „Hintergrundrauschen“ gelte es, in geordnete Bahnen zu bringen und betreffe etwa Werkstätten oder das Disponieren einzelner Fahrten, so NWL-Sprecher Uli Beele.

Attraktivere Arbeitszeiten? Die VWS Siegen würden gerne – haben aber kein Personal

Baumaßnahmen an Schienen würden immer komplexer, umfangreicher und immer dringlicher, was die personellen Kapazitäten bei der Deutschen Bahn und auch die Verkehrsunternehmen vor Ort an ihre Grenzen bringe, so der NWL: „Ein Kraftakt“. Denn auch Schienenersatzverkehr (SEV), ohne den es bei vielen Baustellen nicht geht – aktuell etwa auf der Siegstrecke Richtung Köln – zu organisieren, werde immer aufwändiger. Mitunter könne auch der SEV gar nicht umgesetzt werden, weil einfach nicht genug Fahrpersonal vorhanden sei. Das bestätigt Stephan Boch, Leiter Recht und Finanzen bei den Verkehrsbetrieben Westfalen Süd (VWS): Ersatzverkehr sei lukrativ, habe man immer gern gefahren, könne das aber derzeit nicht anbieten, weil dann noch mehr Tagesgeschäft ausfallen würde.

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Personalmangel ist das derzeit mit Abstand dringendste, alles beherrschende Problem im Verkehrssektor, in mehrfacher Hinsicht. Denn zum Einen kommt kaum noch Nachwuchs in die Unternehmen, zum Anderen ist der Krankenstand unter den Beschäftigten dauerhaft deutlich erhöht. In Summe verschärft fehlendes Personal alle anderen Probleme. Diverse Krisen, permanentes Nachsteuern und Dauerbelastung haben die Krankenstände in bisher nicht gekannte Höhen schnellen lassen, so der NWL: Da die Belastungen perspektivisch nicht geringer werden, gehen Fachleute davon aus, dass sich die Krankenstände auf einem Niveau einpendeln werden, das deutlich über früheren Quoten liegt. „Wir würden gerne die Arbeitszeiten attraktiver gestalten“, sagt Stephan Boch. Das gehe aber derzeit nicht, weil einfach kein Personal vorhanden sei. „Wir fahren alles, was die Lenk- und Ruhezeiten hergeben.“

Rund ein Viertel des Fahrpersonals der VWS in Siegen kann dauerhaft nicht fahren

Krankenstände sind drastisch gestiegen, ohne wäre die Personaldecke innerhalb der Wern Group noch ausreichend, sagt Stephan Boch. Von rund 150 Personen im Fahrdienst der Wern Group sei immer rund ein Viertel, also etwa 40 bis 45 Personen, krank. Zum Teil dauerhaft, weil etwa stressbedingte Erkrankungen zunehmen: Dauerbaustellen und daraus folgende Staus, erhöhte Arbeitsbelastung, zunehmend schwierigere Kunden. „Die Fahrer kriegen Aggression und Frustration der Leute an vorderster Front ab“, sagt Stephan Boch – sie können nichts dafür, dass der vorige Bus nicht kam, würden aber oft dafür verantwortlich gemacht. „Das schaffen psychisch nicht alle.“ Der größere Teil der eher kurzfristigeren Krankmeldungen geht nach Einschätzung Stephan Bochs aktuell auf mehr Infektionskrankheiten zurück; womöglich, weil im Zuge der Corona-Maßnahmen die Immunsysteme der Menschen zwei Jahre lang weniger gefordert waren. Mit der bestehenden Personaldecke könne das nicht mehr aufgefangen werden.

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In Kombination machen Infrastrukturschäden, Fachkräftemangel und Fahrzeugdefekte inzwischen „so gut wie jeden Betriebstag zur Herausforderung“, so der NWL. Auch wenn sich die Situation an vielen Stellen wieder leicht entspanne, werde die Lösung dieser Problematik die Branche auch langfristig vor große Herausforderungen stellen.

Abgespeckter Fahrplan: Damit wenigstens die Grundversorgung in Siegen funktioniert

Absehbar wird es nicht besser. Fahrpersonal lasse sich nicht kurzfristig rekrutieren – Führerscheine brauchen Zeit und kosten viel Geld. „Wir halten überall die Augen offen“, so Stephan Boch. Bei den VWS sei außertariflich am Lohn gedreht worden, um den Beruf attraktiver zu machen. Das sei aber aus wirtschaftlichen Gründen leider begrenzt gewesen: Das Unternehmen habe mit der „Kostenexplosion an allen Fronten“ zu kämpfen. Derzeit arbeite man daran, den Fahrplan hin zu einer verlässlicheren Grundversorgung zu strukturieren, statt von Tag zu Tag Fahrtausfälle neu zu planen. So soll in Abstimmung mit dem Zweckverband Personennahverkehr Westfalen Süd (ZWS) gewährleistet werden, dass alle Bereiche zwar ausgedünnt, aber möglichst gleichmäßig und stabil angefahren werden und nicht beispielsweise stundenlang kein Bus auf den Fischbacherberg fährt.

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In NRW würden laut NWL bis 2030 jährlich 300 neue Triebfahrzeugführer (Tf) benötigt, um den demografischen Wandel auszugleichen, während weitere 100 fehlen, um die Grundversorgung ordentlich gewährleisten zu können. Dazu kommen Güter- und Fernverkehr, die unter genau den gleichen Problemen ächzen. Insgesamt braucht es also erheblich mehr neues Personal – und das nicht nur bei Lokführern, sondern auch Zugbegleitern, in Werkstätten, Leitstellen und der Verwaltung. Bundesweit werden dem NWL zufolge im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) bis 2030 etwa 74.000 neue Beschäftigte benötigt, davon etwa 40.000 im Fahrdienst – und dann wäre nur der aktuelle Bedarf abgedeckt.

Von Mobilitätswende, mehr Bus und Bahn kann in dieser Situation keine Rede sein

Obwohl alle Beteiligten sich mit Hochdruck bemühen würden, Personal zu rekrutieren und auszubilden, sei mit einer weiteren Verschärfung der Personallage zu rechnen, so der NWL. In NRW widme sich das Programm „Fokus Bahn“ bereits seit Jahren der Bekämpfung des Fachkräftemangels. Immerhin: Die enge Zusammenarbeit zahle sich aus: So funktionierten Betriebsübergänge, zum Beispiel nach der Abellio-Insolvenz, weitgehend reibungslos.

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Von einer politisch geforderten Mobilitätswende mit einer Steigerung der Angebote bei Bus und Bahn kann in der derzeitigen Situation aber keine Rede sein. Bei manchen Beschlüssen fehlt nicht nur Stephan Boch der Bezug zur Realität. Die Politik müsse und solle Ziele vorgeben, aber die Rahmenbedingungen müssten auch stimmen. „Wir haben damit zu kämpfen, den jetzigen Fahrplan hinzukriegen.“