Siegerland. Siegener Gastrobetriebe bekommen kaum noch Ausbildungsplätze besetzt. Junge Menschen zeigen wenig Interesse. So will die Branche das ändern.
Der Gastronomie fehlt es weiterhin an Personal, die Branche geht in die Offensive, um neue Leute zu gewinnen. Jüngstes Beispiel wäre ein „Mitmach-Tag“ für Schulklassen im Hotel Fünf10 in Deuz gewesen, bei dem Jugendliche ab Jahrgangsstufe 8 in Kurz-Workshops alle Abteilungen eines Hotelbetriebs praktisch hätten kennenlernen können. Die Aktion, an der zehn Betriebe und Einrichtungen aus dem gesamten Kreisgebiet mitwirken wollten, fiel jedoch aus, weil von den Schulen zu wenige Anmeldungen kamen. Sie soll nachgeholt werden – und auch sonst muss die Branche am Ball bleiben.
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„Es ist schwierig, überhaupt noch Leute in die Gastronomie zu ziehen“, sagt Andrea Dielmann. Sie ist Inhaberin des Ewerts Hotels Netphen, das sich am Mitmach-Tag beteiligen wollte, und war einige Jahre Ausbildungsbotschafterin. Anders als früher, wenn es um die Besetzung von Lehrstellen ging, „haben wir nicht mehr zehn Bewerbungen auf dem Tisch“, sagt sie. Tatsächlich erhielten manche Betriebe nur noch ein oder zwei Anschreiben, wenn ein Ausbildungsplatz zu vergeben sei. Bei sonstigen Stellen sehe es mitunter ähnlich aus.
Siegen: Restaurants und Hotels fehlen Bewerber – die Branche muss attraktiver werden
Angebote wie die im Fünf10 geplante Aktion hätten bisher immer gut funktioniert. Für die Schülerinnen und Schüler seien solche Termine eine prima Gelegenheit, einen Eindruck von der Bandbreite der Tätigkeiten im Gastrogewerbe zu gewinnen, und für die Betriebe, „eine großartige Chance, um zu zeigen, dass wir eine tolle Branche sind. Das ist wichtig, damit wir nicht vergessen werden.“ Eltern und sonstige Bezugspersonen würden Jugendlichen häufig von einer Ausbildung in der Gastronomie abraten, Argumente wie „schlechte Arbeitszeiten und wenig Geld höre ich oft“, sagt Andrea Dielmann.
Viele offene Stellen
Hotels und Pensionen spüren den Personalmangel aktuell besonders deutlich: Zu Beginn der Hauptsaison fehlen in vielen Betrieben in Siegen-Wittgenstein Fachkräfte, wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten mitteilt. Ende Juni habe es im Beherbergungsgewerbe im Kreis 40 offene Stellen gegeben – mehr als doppelt so viele wie genau ein Jahr zuvor (plus 135 Prozent).
Die Realität sei dabei eine andere, betont die Fachfrau. Seit 1. Mai sieht die unterste Tarifgruppe 12,50 Euro statt der bisher 9,82 Mindestlohn pro Stunde vor. Und die Arbeitszeiten abends und an den Wochenenden seien nicht gezwungenermaßen schlecht, sondern einfach „anders“: Manchen Menschen käme es aufgrund ihres Naturells entgegen, später am Tag anzufangen und bis zu einem späteren Zeitpunkt zu arbeiten. Nicht jeder sei ein Typ für den klassischen 9-to-5-Job.
Siegen: Gastrobranche hat in der Pandemie viele Fachkräfte auf Dauer verloren
Angespannt war die Lage schon vor der Pandemie. Seit deren Beginn hat sich die Situation aber verschärft. Bereits im Jahr 2020 hat laut der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) jeder achte Beschäftigte des Siegen-Wittgensteiner Gastgewerbes die Branche verlassen, danach folgten weitere Lockdowns. Es sei nun unheimlich wichtig, „jungen Leuten die schönen Seiten dieser Berufe zu zeigen“, unterstreicht Andrea Dielmann: Weiterentwicklungsmöglichkeiten, enorme Vielfalt – vom Café an der Ecke über das Hotel bis zum Einsatz auf dem Kreuzfahrtschiff – und natürlich die Option „auf der ganzen Welt zu arbeiten“.
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Auch Nina Appel, Pressesprecherin der Agentur für Arbeit Siegen, zeigt sich besorgt über den Fachkräftemangel und den drastischen Rückgang an Bewerbungen im Gastgewerbe. Veranstaltungen wie der ,,Mitmach-Tag“ hätten in der Vergangenheit gezeigt, dass die praktische Erfahrung die positiven Aspekte des Berufs vermittelt. Das geringe Interesse, argumentiert die Pressesprecherin, sei nicht auf die Schulen zurückzuführen, sondern auf die Einstellung der Schüler und Schülerinnen. Zudem sei seit der Pandemie die Unsicherheit groß, ob die Betriebe bei einem erneuten Lockdown wieder schließen müssten. Dabei ,,entstehen die verringerten Öffnungszeiten zurzeit durch den Personalmangel, nicht aufgrund von Beschränkungen“.
Siegen: Personalnot betrifft auch andere Branchen – aber besonders die Gastronomie
Der vermeintlich raue Ton in der Küche sei kein Grund für die fehlenden Bewerbungen. Und ,,wer den Job ausüben möchte, muss Leidenschaft zeigen und sich auf ungeregelte Arbeitszeiten einstellen“, sagt Nina Appel.
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Nicht nur das Gastgewerbe leidet dabei unter Fachkräftemangel. Viele weitere Ausbildungsberufe hätten mit Nachwuchsschwierigkeiten zu kämpfen, beobachtet die Expertin: „Besonders in unserer Region ist der Anteil der Auszubildenden gering.“ Dementsprechend plane die Agentur für Arbeit zusätzlich zu Berufsorientierungstagen und Einzelberatungen auch in Zukunft mit Veranstaltungen und Live-Events der Betriebe.
Gastronomie in Siegen: Trend zu Abitur und Studium dünnt Bewerberpool weiter aus
Dass infolge der Corona-Schutzmaßnahmen Restaurants und Hotels für längere Zeit schließen mussten, habe kurzfristig zu Verunsicherung bei den Schulabsolventinnen und -absolventen geführten, bestätigt Sabine Bechheim, Geschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Siegen. Auf längere Sicht seien es jedoch zwei andere Faktoren, die für den Fachkräftemangel und die Nachwuchsprobleme im Gastgewerbe verantwortlich sind. Einerseits führe der demografische Wandel dazu, dass es ohnehin viel weniger Bewerberinnen und Bewerber auf dem Arbeitsmarkt gebe. Andererseits sei seit einigen Jahren der klare Trend zu beobachten, dass immer mehr junge Menschen Abitur und anschließende Akademikerlaufbahn wählen.
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Dabei halte die Ausbildung im Gastgewerbe viele Chancen und wertvolle Erfahrungen bereit, wie Sabine Bechheim betont. Einmalig seien etwa die Kundenbeziehung und das unmittelbare Feedback, aber auch die hohe Eigenverantwortung und die Freude am Gastgebersein – und das mache Ausbildungsbetriebe attraktiv.
Und was, wenn trotz aller Bemühungen in naher Zukunft Betriebe aufgrund des Fachkräftemangels schließen müssten? „Das will ich nicht hoffen“, sagt Sabine Bechheim. Schließlich wären Restaurants, Hotels und Co. wichtige Orte der Erholung und des sozialen Austauschs. Der hohe Stellenwert, den das Gastgewerbe für die Gesellschaft habe, würde angesichts der derzeitigen Krisen in den kommenden Jahren noch deutlicher hervortreten, so Bechheims Prognose – verbunden mit der Hoffnung, dass diese Wertschätzung sich demnächst auch in der Ausbildungsstatistik widerspiegele.
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