Siegen-Wittgenstein. Während der Pandemie haben in Siegen-Wittgenstein viele Beschäftigte aus der Gastronomie den Job gewechselt. Die fehlen der Branche nun massiv.
Die Beschränkungen sind weitgehend weg – das Personal aber oft auch. Der Neustart nach dem zweiten Lockdown gestaltet sich für viele Gastronomiebetriebe schwierig, weil ihnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlen. Viele davon haben sich während der langen Zwangspause nämlich beruflich umorientiert. „Die Lage ist schon ziemlich dramatisch“, sagt Lars Martin, stellvertretender Hauptgeschäftsführer im Dehoga Westfalen und zuständig für den Geschäftsstellenbereich Siegen.
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Nach Angaben der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat schon im vergangenen Jahr jeder Achte das Siegen-Wittgensteiner Gastgewerbe verlassen. Das gehe aus den Zahlen der Arbeitsagentur hervor. Zum Jahreswechsel 2020/21 seien im Kreisgebiet demnach 3630 Menschen im Hotel- und Gaststättengewerbe beschäftigt gewesen – ein Jahr zuvor waren es 4130, was einem Rückgang um 12 Prozent entspricht. Angesichts des Lockdowns bis in den Mai hinein „dürfte sich der Personal-Schwund bis heute nochmals zugespitzt haben“, schätzt die NGG.
Die Beschäftigten
Unmissverständlich deutlich werde dies beispielsweise beim Blick auf die Facebook-Seiten der Betriebe, wie Lars Martin sagt: „Fast jeder sucht.“ Schon vor der Pandemie habe die Branche Schwierigkeiten, ausreichend Fachkräfte zu finden, doch die Corona-Krise habe dies beschleunigt und verschärft. „Restaurants und Cafés waren sieben Monate geschlossen, Clubs und Diskotheken ein Jahr: Da haben sich viele einen neuen Job gesucht.“
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Viele 450-Euro-Kräfte hätten von einem Tag auf den anderen mit nichts dagestanden, „dass die sofort was Neues suchen, ist klar“. Festangestellte hätten zwar oft Kurzarbeitergeld bezogen, aber in vielen Fällen habe das nicht ausgereicht, um über die Runden zukommen – schließlich fehlte das Trinkgeld. Hinzu komme noch etwas Anderes, sagt der Dehoga-Vertreter: Wer monatelang zuhause sitzt, „sagt sich auch: Da weiß ich mit meiner Zeit etwas Besseres anzufangen“. Zudem sei Gastronomie ein sehr kommunikativer Bereich; wer dort arbeite, sei gerne unter Menschen und viel Arbeit gewohnt: „Da fällt man dann schon in ein Loch.“
Die Job-Alternativen
Gefragt seien die Fachkräfte aus dem Gastro- und Hotelgewerbe auch in anderen Branchen. Erst kürzlich, sagt Lars Martin, habe er eine Stellenanzeige gelesen, in der eine Zahnarztpraxis eine Hotelfachkraft für ihren Empfang gesucht habe. Gerade in Bereichen mit viel Kundenkontakt gebe es einige Möglichkeiten. Abwerbungsversuche habe es schon vor der Pandemie gegeben, seit deren Beginn habe das zugenommen.
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Dass solche Angebote vermehrt auf fruchtbaren Boden fallen, liege natürlich in der Lage begründet. Es sei eine Situation eingetreten, „mit der jahrelang keiner gerechnet hat“, erklärt der Verbands-Vertreter. Er selbst sei stets auf Ausbildungsmessen gegangen und habe den jungen Leuten gesagt: „Die Arbeitsplätze sind sicher. Gegessen und geschlafen wird immer.“ Die Pandemie habe das vollkommen über den Haufen geworfen, und genau das war – und ist weiterhin – das Problem. „Es ist schwierig, weil wir keine dauerhafte Perspektive haben“, betont Lars Martin. Nur, wenn den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine solche wieder geboten werden könne, seien die Jobs wieder verlässlich attraktiv.
Die aktuelle Phase
Noch allerdings herrsche bei den Betroffenen große Unsicherheit. Die Gefahr einer vierten Welle steht im Raum, und die Gastronomie sei bisher von Maßnahmen besonders hart getroffen worden: „Wir waren die ersten, die geschlossen wurden, und die letzten, die wieder aufmachen durften.“ Vor allem kleine Betriebe hätten oft Schwierigkeiten.
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Während größere den Weggang eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin meist noch irgendwie verkraften könnten, stießen Restaurants und Cafés mit sehr kleinen Teams viel schneller an ihre Grenzen – weil sie auf wirklich jeden zwingend angewiesen seien. Wenn nun kleinere Belegschaften den Neustart stemmen müssten, brauche es organisatorische Veränderungen, erläutert Lars Martin. Beispielsweise könnten Platzangebot, Öffnungszeiten oder Speisekartenumfänge reduziert werden, um mit den vorhandenen personellen Ressourcen auszukommen „und noch wirtschaftlich arbeiten zu können“.
Die hausgemachten Probleme
Die Gewerkschaft NGG sieht einen Teil des Problems auch in der Branche selbst begründet. Wenn die gut ausgebildeten Gastro-Fachkräfte in Anwalts- oder Arztpraxen die Büroorganisation übernehmen oder in Supermärkten zwei Euro mehr pro Stunde verdienen als in Hotels und Gaststätten, dürfe es niemanden überraschen, dass sich die Menschen neu orientierten.
450-Euro-Kräfte fehlen
„Derzeit suchen alle Gastros 450-Eurokräfte“, sagt Henning Oelmann vom „Oberwasser“ in Siegen. Die Gastro-Öffnung sei „ziemlich zügig“ gekommen, die Gastronomen hätten kaum Zeit zur Vorbereitung gehabt.
Dadurch, dass bald Semesterferien sind, ständen auch viele Studierende als 450-Euro-Kräfte in Siegen nicht zur Verfügung. „Uns fehlen immer noch ein bis zwei Leute“, erzählt Henning Oelmann. Kürzlich hat er zusammen mit Bruno Puddu das „Oberwasser“ in der Kölner Straße in Siegen eröffnet.
„Schon vor Corona stand das Gastgewerbe nicht gerade für rosige Arbeitsbedingungen“, präzisiert Lars Wurche, Gewerkschaftssekretär der NGG-RegionSüdwestfalen. „Unbezahlte Überstunden, ein rauer Umgangston und eine hohe Abbruchquote unter Azubis sind nur einige strukturelle Probleme.“ Die Unternehmen hätten es lange versäumt, die Arbeit attraktiver zu machen, „das rächt sich jetzt“. Wer künftig überhaupt noch Fachleute gewinnen wolle, müsse umdenken „und sich zu armutsfesten Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen bekennen“.
Das Engagement
„Wir sehen: Betriebe, die ihre Mitarbeiter gut behandelt haben, haben weniger Probleme. Das freut uns natürlich“, merkt Lars Martin an. Der Umkehrschluss, dass Hotels, Restaurants und Cafés mit Personalengpässen schlechte Arbeitgeber seien, sei aber selbstverständlich nicht zulässig, wie der Dehoga-Mann betont – dazu sei die Gemengelage viel zu komplex. Gleichwohl sei der Branche bewusst, dass sie sich um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern müsse. Auch das war aber schon vor der Pandemie Stand der Dinge – als etwa mit Projekten wie den „Ausbildungsbotschaftern“ bereits Aktionen angestoßen wurden, um die Vorzüge herauszustreichen und die Attraktivität der Branche zu steigern.
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„Wir hoffen, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen“, hebt Lars Martin hervor – denn wenn die Pandemie unter Kontrolle sei, könne die Normalität zurückkehren. Bis dahin – und oft genug auch darüber hinaus – müssten viele Gastrobetriebe aber das fortsetzen, was sie wegen des Fachkräftemangels schon vor der Coronakrise angefangen haben: Neue Konzepte entwickeln, wie sich mit weniger Personal das Geschäft aufrechterhalten lässt. Wobei die Dehoga davon ausgeht, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch zurückkehren werden, wenn die Aussichten wieder berechenbarer werden. „Wir brauchen verlässliche Aussagen von der Politik“, sagt Lars Martin.
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