Siegen. Die im Oktober eröffnete psychotherapeutische Hochschulambulanz der Uni Siegen wird „förmlich überrannt“, sagt Prof. Tim Klucken.

Wenn die psychische Belastung zu groß wird, brauchen Betroffene schnelle Hilfe. Doch die Suche nach einem Psychotherapeuten wird oft zur Geduldsprobe. „Ich habe letztes Jahr schon nach einem Therapeuten gesucht, aber es gibt ellenlange Wartelisten“, sagt Lena (Name geändert), die psychische Probleme hat. Statistisch betrachtet ist die Versorgung mit Psychotherapeuten in Südwestfalen laut Kassenärztlicher Vereinigung Westfalen-Lippe derzeit als „stabil“ zu bezeichnen. Doch gleichzeitig gibt es lange Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz. Woran das liegt und wie Menschen mit psychischen Belastungen in der Siegener Hochschulambulanz geholfen wird:

Situation

„Es gibt mehr Bedarf als Angebot“, sagt Prof. Tim Klucken, Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Universität Siegen. Anfang Oktober eröffnete er die Einrichtung. „Es ist wohl die einzige Psychotherapeutische Hochschulambulanz in Südwestfalen“, so Klucken. Als es losging, riefen 100 Betroffene in 60 Minuten an. „Und ich habe 80 Mails bekommen“, sagt Klucken, „wir werden förmlich überrannt.“ Nach nur einer Woche führte die Abteilung schon eine Warteliste für Patienten.

Wartezeiten

Diese Situation steht exemplarisch für viele Psychotherapeuten: Der Andrang ist größer als die Zeit, die ihnen zur Verfügung steht. Oft können sie keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW, sagt: „Die Wartezeiten betragen weiter im Schnitt ca. vier bis fünf Monate für den ersten Kontakt – bei Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche länger.“ Nicht jeder psychisch Erkrankte, insbesondere ein Suizidgefährdeter, kann so lange warten. Die Situation sei nicht nur für psychisch Erkrankte, sondern auch für Therapeuten belastend, betont Tim Klucken.

Gründe

Doch warum kommt es dazu, dass die Kassenärztliche Vereinigung von einer „stabilen“ Versorgung spricht, die Wartezeiten aber gleichzeitig lang, wenn nicht sogar zu lang sind? „Wenn seitens der Krankenkassen oder auch der Kassenärztlichen Vereinigungen davon gesprochen wird, dass ,statistisch’ die Versorgung gesichert sei, liegt das schlicht an den Statistiken“, sagt Gerd Höhner. Er erläutert: „Mit Errichtung der beiden Psychotherapie-Berufe 1999 wurden die damals in der ambulanten Versorgung tätigen Psychotherapeuten (= Ist) einfach als bedarfsdeckend (= Soll) gesetzt, was die damals bestehende Unterversorgung festgeschrieben hat. Dieses Defizit wirkt bis heute nach.“ Der Fehler liegt somit in der zugrunde gelegten Datenlage. „Niemand bestreitet, dass die Wartezeiten zu lang sind, die Kostenträger verweisen dann immer auf die statistisch gesicherte Versorgung“, so Gerd Höhner. Die psychotherapeutische Versorgung sei „weiter nicht ausreichend, was in NRW besonders das Ruhrgebiet und die nicht städtischen Regionen betrifft“.

Hilfe

Umso glücklicher sind Betroffene , wenn sie Hilfe finden – zum Beispiel in der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Universität Siegen. „Wenn man Probleme hat, will man sie auch angehen. Ich bin froh, dass es in Siegen jetzt so ein Angebot gibt“, sagt Lena. Bei einer telefonischen Sprechstunde wurde ihr ein Termin zugewiesen. „Hier schätzen wir unter anderem die Dringlichkeit ein und ob der Patient ambulant bei uns oder stationär behandelt werden muss“, erläutert Klucken. Lena hatte Glück: Vom Anruf bis zum ersten Termin hat sie drei Wochen gewartet. „Ich hoffe, dass mir jetzt geholfen wird“, sagt sie und lächelt.

Krankheiten

Die meisten der Patienten lassen sich wegen depressiver Störungen in der Siegener Ambulanz behandeln. „Die zweitgrößte Gruppe bilden Menschen mit Angststörungen, wie Panikattacken“, so Klucken. Aber auch Zwangs-, Persönlichkeits- und Essstörungen sowie viele weitere psychische Erkrankungen werden in Siegen behandelt.

Therapie

Drei approbierte Psychotherapeutinnen mit mehrjähriger Berufserfahrung arbeiten in der Hochschulambulanz und kümmern sich um die Anliegen der Patienten. Das Angebot steht allen erwachsenen Menschen offen. Durch die Nähe zur Uni könnten psychotherapeutische Methoden, die sich in der Forschung als besonders wirksam erwiesen haben, schnell in der Behandlung eingesetzt werden, betont Tim Klucken. Als Konkurrenz zu den ansässigen Psychotherapeuten verstehe sich die Ambulanz nicht, sondern als Ergänzung. Die Kosten für die psychotherapeutischen Sprechstunden und Probesitzungen werden bei gesetzlich Krankenversicherten von ihrer Krankenkasse bezahlt.

Zum Einsatz kommt in der Siegener Ambulanz ausschließlich die Verhaltenstherapie. Hier wird davon ausgegangen, dass Gefühle, Gedanken und das Verhalten durch Erfahrungen geprägt sind, die im Laufe des Lebens gemacht werden. „Langfristig wollen wir aber auch andere Therapieverfahren anbieten“, sagt Klucken. Perspektivisch ist auch die Behandlung von Kindern und Jugendlichen geplant.

Info: Mehr psychische Krankheiten diagnostiziert

„Wir haben in den letzten 10 bis 15 Jahren einen deutlichen Anstieg der diagnostizierten psychischen Krankheiten und Störungen zu verzeichnen“, sagt Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW.

Dieser Anstieg habe wesentlich damit zu tun, „dass es einfach mehr qualifizierte Behandler gibt und die ‘Kunden’ sich vermehrt direkt an die Psychotherapeuten wenden.“ Hinzu komme, dass von Seiten der niedergelassenen Haus- und Fachärzte vermehrt Menschen mit psychischen Störungen verwiesen werden. „Diese Entwicklung wird für die große Zahl des Anstieges verantwortlich sein.“

Ob es einen wirklichen Anstieg über die verbesserte Diagnostik und Versorgung hinaus gibt, sei strittig.

Mehr Informationen zur Siegener Hochschulambulanz gibt es unter www.pha.uni-siegen.de .