Siegen. Gedenkstunde und virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Siegen - eindrückliche Mahnung und Zeichen: Menschenfeinde haben keine Chance in Siegen.
Sie alle hatten Geschichten, Pläne, lebten, liebten, litten, standen Todesängste aus. „Der 9. November zeigt, wie grausam Menschen sein können“: Mit eindrücklichen Worten erinnerten Landrat Andreas Müller und weitere Redner am Jahrestag der NS-Novemberpogrome an den Auftakt unvorstellbarer Gräueltaten im Jahr 1938 – auch in Siegen.
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Es war eine besondere Gedenkstunde am Platz der Synagoge an diesem Dienstag, 9. November: In dem Jahr, in dem 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland gedacht wurde – und nach der die Künstlerin Gabriela von Seltmann mit ihrem Team die von den Nazis niedergebrannte Synagoge wieder auferstehen ließ (wir berichteten). Für einen Abend, mit digitalen Mitteln, als für alle sichtbares Zeichen, dass die Siegerländer Juden nicht aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt sind; dass die Nazis nicht erfolgreich waren.
Eine Wunde für Siegen, die nie ganz geschlossen werden konnte
„Wir Deutsche haben uns immer als Kulturnation verstanden“, so Müller, als Land der Dichter und Denker. „Am Ende waren wir Barbaren.“ Denn es waren nicht Hitler und eine kleine NS-Elite, die im Alleingang Europa in Schutt und Asche legten. Vielmehr bedienten sie sich der vielen kleinen Rädchen im Getriebe. „Zum Glück müssen wir uns heute nicht fragen, wie wir gehandelt hätten“, so der Landrat – aber wie wir in Zukunft handeln wollen, wenn Menschenfeinde hetzen, Antisemitismus sichtbar wird, Minderheiten ausgegrenzt werden.
Siegen habe eine Wunde, die nie geschlossen werden konnte, die schmerzt und vor Augen führe, was fehlt: Die Synagoge und ihre Gemeinde, die Männer und Frauen die hier gebetet haben. Sie mahne, Brücken nicht wieder einzureißen, sondern die Verständigung der Völker weiter auszubauen.
Die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Siegen: Weit mehr als ein Kunstwerk
Aus den Schrecken von damals gelte es die Lehren zu ziehen für heute und morgen, bekräftigte Bürgermeister Steffen Mues, damit es nie wieder so weit komme, dass solch nicht vorstellbare, aber dennoch geschehene NS-Verbrechen verübt werden. Es gelte, nie wieder wegzusehen oder zu schweigen, bevor das Böse zu mächtig werde. Antisemitismus sei für die, die darunter zu leiden haben, täglich allgegenwärtig; umso wichtiger sei es, Zeichen zu setzen.
Die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge sei weit mehr als ein Multimedia-Kunstwerk: Sie schlage eine Brücke in unsere Vergangenheit, die unmittelbarer, persönlicher, bewusster werde. „Sie ist ein Zeichen der Versöhnung, weil sie einen Weg aus der Sackgasse der Verstörung aufzeigt“, so Mues, eine eindringliche Konfrontation mit der Vergangenheit. Umso erschreckender sei es, wie wenig einige laute Minderheiten dazugelernt haben; Erinnerungskultur wie diese sei nach wie vor dringend notwendig. „In Siegen werden wir Menschenverachtung keine Chance geben und Fremdenfeindlichkeit in jeder Form bekämpfen.“
Eine Geschichte von Millionen während der Nazi-Zeit: Für Menschlichkeit entscheiden
Eines von Millionen jüdischen Schicksalen in Nazi-Deutschland schilderte Amit Ben-Zvi, Präsident des Regionalparlaments Emek Hefer, israelischer Partnerkreis Siegen-Wittgensteins. Auf Hebräisch, so wie ihm diese Geschichte erzählt wurde. Und auf Deutsch, übersetzt von Alon Sander, so wie sich die Geschichte ereignete. Es ist die Geschichte seiner Mutter, die damit beginnt, dass in der Pogromnacht das Böse an die Tür seiner Großeltern in Berlin klopfte: Ein rechter Mob hatte das Kaufhaus des Onkels niedergebrannt, das Besitzerehepaar entführt, „sie kehrten nicht mehr zurück, ich weiß nicht was passiert ist. Also: wie, wo und wann sie gestorben sind“, so Ben-Zvi. „Sie wurden ermordet, nur weil sie Juden waren.“ Das Böse habe seine eigene Natur, es beginne klein und intensiviere sich, bis es jede Kontrolle und Grenze verliert.
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1940 wurde Amit Ben-Zvis Mutter, damals 6 Jahre alt, unter falscher Identität als christliches Mädchen fortgeschickt, sie landete in einem ostpreußischen Dorf. Als im November 1944 alle Bewohner vor der Roten Armee flohen, ließen ihre Adoptiveltern das Mädchen zurück. „Keiner konnte ihr Weinen hören.“ Aber genau sechs Jahre nach der Pogromnacht entdeckte sie eine andere, gute Seite des Menschen: Christina, eine 30-jährige Frau, war geblieben. Sie nahm das Mädchen an sich, gemeinsam marschierten sie monatelang, fast 1000 Kilometer, bis nach Dresden. Dank dieses „Mensch gewordenen Engels“, einer Frau die sich entschieden habe Mensch zu sein, wo es keinen anderen Menschen gab, lebe seine Mutter heute 87-jährig in Israel. „Man kann die Vergangenheit nicht ändern, die Opfer nicht zurückbringen. Aber die Lehren müssen gelernt werden: Sich für das Gute, für das Mitgefühl zu entscheiden.“ Alle Menschen, egal wie sie aussehen, welche Sprache sie sprechen, an welchen Gott sie glauben, seien geboren mit dem gleichen elementaren Recht zu leben. „Zwischen richtig und falsch zu wählen, ist eine Fähigkeit, die allen gegeben ist, kein Schicksal.“