Siegen. Internationales Künstlerteam lässt von Nazis niedergebrannte Synagoge Siegen virtuell auferstehen, als erstes jüdisches Gotteshaus in Deutschland

Am Donnerstag, 22. Juli, jährt sich ein besonderer Tag in der Geschichte Siegens und des Siegerlands: Vor 127 Jahren, 1904, feierte die Jüdische Gemeinde Siegen die Einweihung ihrer Synagoge. Das Gotteshaus wurde 1938 von SA- und SS-Männern in Brand gesteckt. 1941 baute die Stadt Siegen auf dem Grundstück einen Luftschutzbunker.

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Auf Initiative der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland (CJZ) wird die Synagoge virtuell rekonstruiert – als erstes jüdisches Gotteshaus in Deutschland.

Das Ereignis wird von Siegen aus live im Netz übertragen

Die Collage zeigt die Siegener Synagoge bei ihrer Zerstörung am 10. November 1938, beim Richtfest am 15. Oktober 1903 und nach ihrer Einweihung am 22. Juli 1904.
Die Collage zeigt die Siegener Synagoge bei ihrer Zerstörung am 10. November 1938, beim Richtfest am 15. Oktober 1903 und nach ihrer Einweihung am 22. Juli 1904. © CJZ Siegerland | Gabriela von Seltmann

Zum Gedenken an die Reichspogromnacht lassen die Multimedia-Künstlerin Gabriela von Seltmann und ihr internationales Team (siehe Zweittext) am 9. November die Siegener Synagoge virtuell auferstehen. In einer animierten Video- und Klang-Installation erhebt sich die 1938 niedergebrannte Synagoge aus den Trümmern und erscheint an der Außenwand des Hochbunkers, in dem inzwischen das Aktive Museum Südwestfalen untergebracht ist, in ihrer einstigen Gestalt. Während der zwei- und dreidimensionalen Animation sind historische und zeitgenössische Aufnahmen von synagogalen Gesängen zu hören.

Die Premiere der ersten virtuellen Rekonstruktion einer Synagoge in Deutschland soll stellvertretend die über 1400 Synagogen und Bethäuser ins Gedächtnis rufen, die in der sogenannten „Reichskristallnacht“ im November 1938 zerstört wurden, so die CJZ. Das Ereignis wird live im Internet übertragen.

Warnung und Mahnung vor wachsender Judenfeindschaft

tein für Stein wird die Siegener Synagoge am Computer wieder zusammengefügt.
tein für Stein wird die Siegener Synagoge am Computer wieder zusammengefügt. © Unbekannt | CJZ Siegerland

Die virtuelle Rekonstruktion ist eine deutsch-polnisch-ungarische und zugleich jüdisch-christliche Co-Produktion. Die Künstler stammen aus Ländern, „in denen nationalistisch-autokratische Regierungen die Demokratie in autoritäre Staatsformen umwandeln und in denen – wie auch in Deutschland – der Antisemitismus in alle Bevölkerungsschichten eindringt“, teilt die CJZ mit. Das Projekt sei also auch als Warnung und Mahnung vor wachsender Judenfeindschaft gedacht.

Zugleich wird bei der Open-Air-Veranstaltung die 2018 uraufgeführte virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Warschau gezeigt – als grenzübergreifendes Zeichen dafür, dass Tod und Zerstörung durch Erinnerung, Versöhnung und Liebe überwunden werden können, wie es weiter heißt. Das 1878 erbaute Wahrzeichen des einst blühenden jüdischen Lebens in Warschau war am 16. Mai 1943 von der SS gesprengt worden.

Künstlerkollektiv will in Siegen mit Kunstereignis Empathie wecken

EIne Innenaufnahme der Synagoge Siegen.
EIne Innenaufnahme der Synagoge Siegen. © Unbekannt | Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur

Gabriela von Seltmann: „Nur wenn der offene Umgang mit der Vergangenheit gelingt, kann es zu einem Prozess des gegenseitigen Verstehens kommen und damit zu einem friedlichen Miteinander in Gegenwart und Zukunft. Tod und Zerstörung dürfen nicht das letzte Wort behalten!“ Durch Erinnerung, Versöhnung, Hoffnung und Liebe könne man sie überwinden. Erinnern müsse immer mit Empathie verbunden sein, diese könnten künstlerische Projekte wecken: „Kunst kann Erinnerungen zurückbringen, Hoffnung geben, inspirieren und heilen. Wo es Empathie gibt, herrscht keine Angst mehr.“

Der US-Holocaust-Experte Frederick Whittaker sagt: „Das Projekt zeigt, dass Kunst die Kraft hat, uns zum Erinnern zu nötigen, in uns Hoffnung zu erwecken, in uns Heilung zu bewirken und uns zu einer größeren Liebe aufzurufen.“

Jüdisches Leben im Siegerland jahrhundertelang verboten

Das Siegerland gehört zu den Regionen in Deutschland, in denen sich jahrhundertelang keine Juden ansiedelten durften. Die älteste urkundliche Erwähnung von Juden in Siegen stammt aus dem Jahr 1253, doch die mittelalterliche jüdische Gemeinde wurde vermutlich während der Pestpogrome 1349/50 ausgelöscht. Bis in die napoleonische Zeit (um 1800) verweigerte das Fürstenhaus Nassau Jüdinnen und Juden das Aufenthaltsrecht im Siegerland.

Erst als unter dem Einfluss der Französischen Revolution (1789) und der Aufklärung den Juden in den deutschen Landen mehr Rechte und Freiheiten gewährt wurden, konnte sich 1815 zum ersten Mal seit dem Mittelalter eine jüdische Familie in Siegen niederlassen. Es dauerte jedoch weitere drei Jahrzehnte, ehe ihr 1843 die Stadt das Bürgerrecht gewährte.

Die Synagoge Siegen entsteht 20 Jahre nach der Gemeindegründung

Ein nennenswertes jüdisches Leben in Siegen lässt sich ab 1867 verzeichnen, als mehrere jüdische Familien aus dem Sauerland und Wittgenstein in die wachsende Industriestadt zogen. 1884 gründeten sie eine Gemeinde, die sich zwanzig Jahre später (1904) eine Synagoge errichtete. Die Gemeinde, die meist um die hundert Mitglieder zählte, bestand jedoch keine sechs Jahrzehnte: Im Februar 1943 wurden die letzten Siegener Jüdinnen und Juden in die nationalsozialistischen Vernichtungslager deportiert. Seit 1945 lebten und leben nur vereinzelt Jüdinnen und Juden in Siegen.

Die Akteure

Gabriela von Seltmann (Hilchenbach/Warschau) zählt zu den bedeutendsten Protagonistinnen der jüdischen Kulturszene. Ihr Spektrum umfasst animierte Video-Clips, Dokumentarfilme, avantgardistisches Musiktheater und visuelle Großprojekte. Mit ihren Projekten möchte sie das reichhaltige Erbe der jüdischen Kultur bewahren und wiederbeleben.Das polnisch-ungarische Künstlerpaar Elwira Wojtunik und Popesz Czsaba Láng (Krakau) präsentiert unter dem Label „Elektro Moon Vision“ interaktive Multimedia-Installationen, Animationen und Augmented-Reality-Kunstprojekte auf fast allen Kontinenten. Marcin Lenarczyk (Warschau) aka „DJ Lenar“ ist international gefragter Filmkomponist, Ton-Designer und -Ingenieur und Avantgardemusiker.Die in der Ukraine geborene und in Tel Aviv und Wien ausgebildete Sängerin Sveta Kundish (Berlin) ist in Konzertsälen und Synagogen zu Hause: Seit 2018 leitet sie als Vorbeterin und Kantorin die Gottesdienste in der Jüdischen Gemeinde Braunschweig.Die Fotografin und Scherenschnitt-Künstlerin Monika Krajewska (Warschau) widmet sich seit mehr als 40 Jahren jüdischer Kunst. Mit ihren Scherenschnitten hat sie das von den Nazis weitgehend ausgelöschte Kunsthandwerk des osteuropäisch-jüdischen Scherenschnitts neu belebt.Marek Gajczak (Krakau) gehört zu den bedeutendsten Kameramännern und Bildregisseuren des polnischen zeitgenössischen Films.Uwe von Seltmann (Hilchenbach/Warschau) beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit jüdischer Geschichte und Kultur und mit den familiären, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der NS-Zeit auf die Gegenwart. Zuletzt erschien im März 2021 „Wir sind da!“, das offizielle Buch zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.Die 1959 gegründete CJZ erinnert neben ihren vielen anderen Aktivitäten seit 1965 alljährlich am Platz der zerstörten Synagoge an die Reichspogromnacht von 1938.

Die Siegener Synagoge wurde vom renommierten Berliner Architekten Eduard Fürstenau (1862 bis 1938) entworfen. Der Gottesdienstraum bot unten 90 Sitzplätze für Männer und auf der Empore 70 für Frauen. Die Gottesdienste wurden von einem Chor und einem Harmonium musikalisch umrahmt. Das Gebäude enthielt zudem einen Schulraum, ein rituelles Bad und eine Hausmeisterwohnung.

Schaulustige während der Pogrome in Siegen ohne Beifall, ohne Protest

Gegen Mittag des 10. Novembers 1938 steckten Siegener SA- und SS-Männer die Synagoge in Brand. Die Feuerwehr konzentrierte sich darauf, das Überspringen des Feuers auf die umliegenden Gebäude zu verhindern. Die zahlreichen Schaulustigen verhielten sich ruhig, weder Beifallsbekundungen noch Protest waren zu vernehmen. Nach der Zerstörung verlangten die NS-Behörden von der Gemeinde den Abbruch der Ruine und den Verkauf des Grundstücks. Die Kosten des Abbruchs hatte die Gemeinde zu übernehmen.

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Das Grundstück ging am 20. Juli 1940 – fast auf den Tag genau 36 Jahre nach Einweihung der Synagoge – weit unter Wert an die Stadt Siegen. 1941 baute die Stadt auf dem Grundstück einen Luftschutzbunker. „Nichts sollte mehr daran erinnern, dass hier eine Synagoge gestanden hatte“, so die CJZ.

Weitere Informationen auf synagoge-siegen.de.