Müsen. Die Mulimedia-Künstlerin Gabi von Seltmann ist in Polen geboren. Dort möchte sie nicht mehr leben. Geschichte wiederholt sich – doch.

Gabi und Uwe von Seltmann sind seit 15 Jahren zusammen. Uwe, der Sohn einer Müsener Familie, Journalist, Publizist. Gabriela, die Tochter einer Familie aus dem Südosten Polens, Multimedia-Künstlerin, Regisseurin, Produzentin. Sie ist die Frau, die am Abend des 9. November die Siegener Synagoge, die vor 83 Jahren von den Nazis niedergebrannt wurde, für ein paar Stunden wieder sichtbar macht. Mit einer Projektion auf die Fassade des Bunkers mit dem Aktiven Museum, das heute am Standort der Synagoge an die Verbrechen der NS-Diktatur erinnert.

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Die Großväter: Täter und Opfer

Englisch ist für das Ehepaar eine dritte Sprache. „Man denkt zwei Mal nach“, sagt Gabi von Seltmann, die in Krakau und in Aix-en-Provence studiert hat, „man kann so weniger angegriffen oder verletzt werden.“ Ihr Großvater sprach gut Deutsch – er wurde in Auschwitz ermordet. Die Eltern sprechen die Sprache der Täter nicht mehr. „Deutsch ist bei uns kein Thema“, sagt sie über die Familie ihrer Eltern, „wie so vieles andere auch.“ Ihr Ehemann Uwe von Seltmann kennt das mit den Tabus: Sein Großvater war in der SS, ermordete Juden im Warschauer Ghetto. Die Geschichten ihrer Großeltern haben Gabi und Uwe von Seltmann in einem Buch aufgeschrieben. Darin steht noch nicht, was mit der „Ungarn-Sache" gemeint war: Dem „österreichischen SS-Großvater“, so nennt ihn Uwe von Seltmann, war die jüdische Verwandtschaft der Siegerländer Schwiegereltern lästig. Uwe von Seltmann hat das in der Erzählung „Großvater war kein Seeräuber“ aufgeschrieben.

Die Siegener Synagoge, am 10. November 1938 von den Nazis niedergebrannt, wird am 9. November 2021 temporär ins Stadtbild zurückkehren: In virtueller Form, projiziert auf die Wand des Bunkers, der auf dem Grundstück am Obergraben errichtet wurde.
Die Siegener Synagoge, am 10. November 1938 von den Nazis niedergebrannt, wird am 9. November 2021 temporär ins Stadtbild zurückkehren: In virtueller Form, projiziert auf die Wand des Bunkers, der auf dem Grundstück am Obergraben errichtet wurde. © Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland e.V. | Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland e.V.

Ein reisendes Paar: Müsen ist der Anker

Mit der Seeräuber-Geschichte hat der Müsener sich am Litlink-Festival in Kroatien beteiligt. Der Untertitel: „Eine Odyssee von der Sieg an die Adria“. Denn da haben Gabi und Uwe von Seltmann, nachdem sie die Zelte in Polen – bis auf ein Apartment in Warschau – abgebrochen haben, eine neue Heimat gefunden. Eine von mehreren, abgesehen, seit 2016, vom gemeinsamen ersten Wohnsitz in Müsen. Immer an ihrer Seite: Irenka, die zehn Jahre alte Katze. „Eine travelling cat“, sagt Gabi von Seltmann.

„Müsen ist für uns beide ein Anker“, sagt Uwe von Seltmann. der eigentlich fast schon wieder auf dem Sprung ist: bis Mitte Dezember ist er auf Lesereise mit „Wir sind da“, seinem Buch zu 1700 Jahre jüdischem Leben in Deutschland. Gabi von Seltmann geht nach Warschau, startet mit einem Podcast über Liebe, und sie will nach New York, für einen 80. Geburtstag. Über Monate voneinander getrennt? „Wir sind das sehr gewohnt“, sagt Uwe von Seltmann. Gabi von Seltmann erinnert an zehn Monate Covid-Exil in Istrien: „So lange waren wir noch nie zusammen.“

9. November

Die virtuelle Rekonstruktion der Siegener Synagoge beginnt am Dienstag, 9. November, 17.30 Uhr, auf der Außenwand des 1941 errichteten Bunkers am Obergraben, an dessen Stelle sich bis 1938 die Synagoge befand und der heute Aktives Museum ist. Vorher findet um 17 Uhr die jährliche Gedenkstunde zur Pogromnacht statt.

Von Siegen 1938 bis Warschau 1943

Die Warschauer Synagoge war eine der letzten, die die Nazis gesprengt haben, 1943. Die Video-Installation, mit der Gabi von Seltmann dieses Gotteshaus wieder sichtbar machte, fand am 19. April 2018 statt, dem Jahrestag der Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943. Mit der Pogromnacht 1938, nach der auch die Siegener Synagoge 1938 brannte, begann eine neue Stufe der Auslöschung jüdischen Lebens. „Wenn die Welt 1938 reagiert hätte, hätte es vielleicht keinen zweiten Weltkrieg gegeben“, überlegt Uwe von Seltmann.

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Nicht mehr in Polen leben können

In Polen wollte Gabi von Seltmann Menschen bewegen: „Wir sind ein Volk mit verschütteten Erinnerungen“, sagt die 50-Jährige und gebraucht den Begriff der „Brücke in die Gegenwart“. Allerdings anders als in Deutschland, wo die Forderung nach dem „Nie wieder“ in den Vordergrund gestellt wird. Denn es gibt ihn längst wieder, den Nationalismus, den Antisemitismus, die Hate Speech im Internet.

„Es kann wieder geschehen“, sagt sie und erzählt über die Camps mit Geflüchteten, die aus dem Belarus heraus-, aber in Polen nicht hereinkommen. „Sie sterben in den Wäldern zwischen den Grenzen." Wie damals Juden und andere verfolgte Deutsche, vor denen die Nachbarn die Grenze schlossen. „Und wieder gibt es keine Bewegung dagegen.“ 2016, als der rechtspopulistischen PiS der Kaczyński-Brüder die Regierungsgewalt zufiel, zog dass Ehepaar Konsequenzen und brach die Zelte in Polen ab. „Da wurde deutlich, wohin der Weg führen würde“, sagt Uwe von Seltmann, der in diesem Jahr 57 geworden ist.

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Junge Menschen erreichen

Auch nach der Synagogen-Installation in Siegen wird Gabi von Seltmann weiter daran arbeiten, Menschen zu bewegen, mit einer Botschaft der Hoffnung, die vielleicht Leben verändert. Und vor allem junge Menschen erreicht, die keine Spuren mehr von dem sehen, wozu Gewaltherrschaft imstande ist. Nicht nur mit Worten, sondern mit Licht und mit Klängen. Junge Menschen, die nicht wissen, dass auf der anderen Straßenseite eine Synagoge stand, weder in Warschau noch in Siegen. Denen, in Siegen, die Vorstellungskraft fehlt, dass Menschen tatenlos zugesehen haben, wie dort, am Obergraben, diese Synagoge am hellichten Tag angezündet wurde. „Ich hoffe, sie werden Fragen stellen.“ Das Geschehen am 9. und 10. November 1938 gehört ins Gedächtnis der Stadt. „Es ist die Geschichte der Juden, und es ist unsere Geschichte.“

Gabi von Seltmann macht nicht den Eindruck, dass sie aufgibt. Ob sie mit Überzeugung hofft? „Eines Tages werden wir alle aufwachen“, sagt sie an irgendeiner Stelle des Gesprächs. So oder so. Aber Nichtstun ist keine Alternative.

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