Siegen. Steffi aus Siegen fühlt, was jeder fühlt – aber viel extremer: Borderline. Als Kind wurde sie schwer misshandelt. Jetzt kämpft sie für Aufklärung

Misshandelte Kinder sind fürs Leben gezeichnet. Viele Menschen empfinden Wut und Hass gegenüber den Tätern. Viele waren selbst einmal misshandelte Kinder. „Ich würde mir wünschen, dass die Menschen verstehen: So kann fürs Leben gezeichnet aussehen. Das Verständnis, das die Menschen für traumatisierte Kinder aufbringen, sollten sie auch den heute erwachsenen Menschen entgegenbringen.“ Sagt Steffi (Name ist der Redaktion bekannt) aus Siegen.

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Sie ist selbst ein misshandeltes Kind, aus dem eine fürs Leben gezeichnete Erwachsene geworden ist. Steffi hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie hat kein Kind misshandelt, keine Straftat begangen. Glück gehabt?

1. Steffis Geschichte: Ihr Vater schlug das kleine Mädchen und nahm es in den Arm

Steffi ist es wichtig, dass kein Mensch nur aus seinem Verhalten besteht. Dass hinter einem Verhalten etwas steckt. So wie bei ihr. Dass sie jeden Tag einen Kampf führt, im Kopf, mit ihrer Krankheit. Den sie und andere Betroffene auch mal verlieren. „Wir haben uns das nicht ausgesucht.“ Die 33-Jährige hat einiges mitgemacht in ihrem Leben, einiges hat sie sehr geprägt. Das sieht man nicht auf den ersten Blick. Und auch nicht auf den zweiten. Ihren täglichen Kampf sieht keiner, die harte Arbeit an sich selbst. Die Therapie einmal pro Woche, die Anspannungsprotokolle. Ihr Vater misshandelte Steffi und ihre Mutter schwer. „Zuhause herrschte eine Art Diktatur“, erzählt sie. „Mein Vater wollte, dass ich abliefere, dass ich die Beste bin.“ Der Leistungsdruck war konstant hoch: Heftkontrollen zum Beispiel, Verbote, Einschränkungen.

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Mit der Einschulung begannen die Schläge, mit dem Ledergürtel. Es wurde immer häufiger. Anfangs gab es noch „Gründe“, auch wenn es keine Rechtfertigung für so etwas gibt. Füller verloren, 5 in Mathe. Irgendwann brauchte es keinen Anlass mehr für Schläge. „Man darf nicht denken, dass man sich daran gewöhnt“, sagt sie. Jedes einzelne Mal hatte sie Todesangst. Der menschliche Körper kann Schmerz nur bis zu einem gewissen Grad ertragen. Oft dachte das kleine Mädchen, dass seine Grenze nun erreicht sei. Und irgendwann ließ ihr Vater von ihr ab.

Schlimm war der Anwalt, der im Gericht aus ihren Mädchentagebüchern zitierte

Er war Peiniger und Beschützer zugleich. Er schlug seine Tochter, verletzte sie, ängstigte sie. Dann kam er zurück und nahm sie in den Arm. Sagte ihr, dass er sie liebt. Er, der Geborgenheit und Schutz gibt, ist auch der, der ihr am meisten weh tut. „Schwarz-weiß-Denken ist bei mir sehr ausgeprägt“, sagt Steffi heute. Ein ständiges Auf und Ab. Ihre Mutter, so empfand es das Mädchen, verbündete sich mit ihrem Peiniger gegen sie. „Du hast es verdient“, sagte sie, wenn die Tochter sich ihr anvertrauen wollte. Sie traf es wohl selbst weniger schlimm, wenn sie dem Vater beistand, als „Team“ gegen die Tochter. So erklärt sie sich das heute.

Mit 12 Jahren schaffte sie es, wegzulaufen. Ohne sich der Konsequenzen wirklich bewusst zu sein. Es war wieder so ein Abend, der Vater hatte sie schlimm misshandelt, hört nur auf, weil er angerufen wurde und wegmusste. Und er vergaß, wie sonst das Telefon zu sperren. Sie rief eine Freundin an, sagte ihr, dass sie nicht mehr leben wolle. Die Mutter der Freundin hörte mit. Schnappte sich den Hörer, befahl ihr fast, eine Hose und einen Pullover einzupacken, morgen ganz normal zur Schule zu gehen. Und nicht mehr zurückzukommen. Steffi packte eine schwarze Hose und einen blauen Rollkragenpulli ein.

Sie gingen zum Jugendamt, das Mädchen kam in Bereitschaftspflege, musste irgendwann vor Gericht gegen ihre Eltern aussagen. Am Schlimmste fand sie, dass der Anwalt ihrer Eltern aus ihrem Tagebuch zitierte, sie als psychisch krank darstellen wollte. Den Eltern wurde das Sorgerecht entzogen, sie kam in die Obhut des Jugendamts, wurde entwurzelt. Trotz allem waren es immer noch ihre Eltern. Und in den Pflegefamilien wurde sie „problematisch“: Sie wusste nicht wohin mit ihren Empfindungen, mit ihrer Krankheit, die sich mehr und mehr entwickelte. Nahm Drogen, wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht. Da war das Kind wohl schon in den Brunnen gefallen.

2. Die Krankheit Borderline: Fühlen was jeder fühlt – aber viel extremer

Steffi wuchs ohne das kindliche Grundvertrauen auf, geliebt zu werden, egal was man angestellt hat. Dass man nicht weggegeben wird. Sie erlebte Nähe und Distanz jahrelang nur in Extremen. Auf Schläge folgten Umarmungen. Wollte sie sich der Mutter anvertrauen, stieß sie auf Ablehnung. So erklärt sie sich ihre Krankheit: Das Erleben ihrer Emotionen, sagt sie, wurde schwer gestört. Borderline.

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„Ich fühle, was jeder fühlt“, erklärt sie. Verlust, Angst, Traurigkeit, Freude – aber fünf bis sechs Mal extremer. Sie sehnt sich so sehr nach Nähe, dass sie Angst bekommt, dass der andere Mensch sie verlässt. Ihre Bedürfnisse erlebt sie übersteigert und sie fordert sie genauso übersteigert ein. Sie ist schnell von 0 auf 100. Das macht es auch schwer für ihr Umfeld.

Diese Regulationsstörung der Gefühle muss und kann kontrolliert werden. Es braucht ein Ventil: Das können Drogen sein, Sex, zu schnelles Autofahren, heftiger Streit. Oder selbstschädigendes Verhalten. Ritzen. „Das ist kein Schrei nach Hilfe“, erklärt sie: „Es ist ein Ablassventil für diesen Druck, in dem man mit dem Kopf durch die Wand will.“

Wenn die Gefühle hochkochen, kann Steffi sie herunterregulieren. Meistens

Sie merkt, wenn ihr Emotionslevel steigt. Dann setzt sie Gegenstände ein, mit denen sie sich beschäftigt, ihr Gefühl kanalisiert. Mit einem Massageball herumspielen. Ein scharfes Bonbon essen. Zahnseide benutzen. Sie hat immer eine kleine Tasche mit diesen Gegenständen dabei. Für jedes „Emotionsniveau“ ist darin der geeignete Gegenstand, „um das Gehirn kognitiv mit etwas anderem zu beschäftigten“. Sie reguliert ihre Gefühle herunter. Bei 30 auf einer Skala von 0 bis 100 kann es Zahnseide sein. Bei 80 der Massageball. Oder sich sehr unbequem hinsetzen. Das tut weh, ist aber kein selbstschädigendes Verhalten. Und es reguliert die Wut, die Angst – das Gefühl eben – wieder herunter.

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Das Skillen erfordert enorme Disziplin und große Stärke. Und nicht jedes Mal klappt es. Manchmal steigt das Gefühlslevel zu hoch. Dann verliert Steffi die Kontrolle. Wie jeder Mensch verhalten sich Personen mit Borderline-Störung, ohne groß darüber nachzudenken. Verhalten passiert einfach, unbewusst, niemand steuert Emotionen aktiv. Sie muss aber immer die Kontrolle behalten über etwas, das plötzlich kommt und sich zunächst der Kontrolle entzieht. „Mein Freund sagt oft: Für Dich ist es anstrengender als für mich.“ Inzwischen sei sie in einer Phase, in der sie die Erkrankung versteht und auch Verständnis für sich selbst aufbringt.

Das war nicht immer so: „Man empfindet sich selbst oft als Zumutung.“ Sie wisse, warum sie „hochkocht“, was das ausgelöst hat, kann es vermeiden. Ihr nächster Schritt: Sie will das Feuer nicht hinterher oder währenddessen löschen, sondern es gar nicht erst ausbrechen lassen. „Das schaffe ich. Aber es kommt vor, dass ich es nicht schaffe.“

3. Aufklärung in den Sozialen Netzwerken: „Erfolgreich Durchgeknallt“ aus Siegen

„Erfolgreich durchgeknallt“ heißt Steffis Instagram-Seite. Die hatte sie schon lange, eigentlich als privates Profil, bis sie entschied, das auszubauen. Zunächst als „Ventil“, um sich selbst besser erklären zu können. Denn anderen Menschen zu erklären, was in ihr vorgeht – schwierig. Auch und gerade denen, die ihr nahestehen. Und als Aufklärung, an alle, für mehr Wissen um psychische Erkrankungen, als Signal an andere Betroffene: Anderen geht es genauso. Sie hätte nie gedacht, „dass die Seite so einen Lauf nimmt“ – binnen Wochen stieg die Zahl ihrer Abonnenten auf mehr als 5000. Das bestärkte sie ungemein: Offensichtlich fühlen sich da draußen ganz viele andere auch stigmatisiert, stoßen auf Unverständnis, Ablehnung, Vorurteile.

Meistens waren es Alltagssituationen, die sie zu Beiträgen inspirierten. Sie machte sich Notizen, formulierte, feilte, überlegte, irgendwann war der Beitrag fertig. Sie führte Experteninterviews, erfand zum Beispiel das Format „Frag einen Betroffenen“, organisierte Fotoshootings, Videodrehs.

Der Druck der Sozialen Medien: Immer neuer, guter Content

Mit dem Erfolg kam auch eine gewisse Belastung. „Ich sehe das als Arbeit“, sagt Steffi. Ein Nebenjob, bezahlt mit vielen positiven Rückmeldungen und zum Glück nur wenigen negativen. Nach einigen Monaten nahm sie das Tempo raus, im Moment pausiert die Seite weitgehend. „Es wurde auch mal Zeit, wieder Steffi zu sein“, sagt sie. Sie war nicht aus auf Ruhm. Aber immer mehr Menschen kannten die Seite, betrachteten sie zunehmend als Expertin, vertrauten ihr auch ihre Leidensgeschichten an. „Ich verstehe das, absolut.“ Aber es belastete sie auch. Sie ist Pharmareferentin, keine Therapeutin. Dazu stieg der Druck, immer neuen, guten Content zu produzieren. Irgendwann gab es kaum noch Tage, an denen sie nicht darüber nachdachte, was sie posten könnte. „Mir ging es damit nicht mehr gut, es gab nur noch das Thema.“ Bevor sie drohte zu vergessen, was sie sonst noch gerne macht, zog sie die Reißleine. In gewisser Weise hatte Steffi sich selbst auf ihre Erkrankung reduziert.

Was nicht heißt, dass die Seite stillgelegt ist. Sie wird sich weiter für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen einsetzen, aber eben nicht mehr in dieser Form. „Ich habe nicht aufgehört zu schreiben“, sagt Steffi. „Nur nicht mehr in dieser Intensität und mit dem Druck, Content liefern zu müssen.“ Vielleicht schreibt sie auch ein Buch.

4. Kampf gegen die Stigmatisierung von Menschen mit psychischer Erkrankung

Vor Jahren schon hatte Steffi in Siegen nach einer Selbsthilfegruppe gesucht und nicht gefunden. Netzwerke, offener Austausch für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung gibt es selten. In Siegen kennt sie niemanden, der auch Borderline hat. Dabei half die Instagram-Seite (siehe oben). Privat sucht man sich keine anderen Leute mit der gleichen Diagnose. Gerade psychische Erkrankungen seien so unterschiedlich in ihren Erscheinungsformen – das könne man kaum in irgendwelche Schubladen stecken. „Andere haben das viel ausgeprägter als ich.“

Aber alle erleben Stigmatisierung. Die Gesellschaft hat mehrheitlich ein klares Bild von psychisch Kranken. Die Krankheit überlagert die Person. Und irgendwann besteht die Gefahr, dass sich die Betroffenen selbst auf ihre Krankheit reduzieren, die Stereotypen der Gesellschaft annehmen: Dass Depressive angeblich faul seien, Borderliner keine Kontrolle über ihr Leben hätten. „Menschen stecken andere in Raster“, sagt Steffi, „ohne böse Absicht. Weil sie es nicht verstehen.“ Dagegen kämpft sie.

Die Gesellschaft, die Arbeitswelt lässt psychisch Kranken oft keine Chance

Das betrifft auch die strukturelle Diskriminierung psychisch Kranker. „Ein großes Problem.“ Bei Ämtern oder Versicherungen. Betroffene sind nahezu chancenlos, zum Beispiel eine Berufsunfähigkeitsversicherung zu bekommen. Wer mal in Psychotherapie war, wird abgelehnt. „Die Leute machen das, weil sie sich der Arbeitswelt verfügbar machen wollen“, auch präventiv – und werden dafür bestraft. Ihnen wird ein Stück Sicherheit verwehrt, also suchen sie sich lieber keine Hilfe. Oder zu spät. Ein drängendes gesellschaftliches Problem, findet sie, die Fallzahlen explodieren: „Kinder werden zum Beispiel auch von Lehrkräften unterrichtet, die sich keine Hilfe holen.“ Ganz abgesehen davon, dass es viel zu wenig Kapazitäten gebe: Zu wenig Kassensitze, zu wenig Fachpersonal. Präventiv zur Psychotherapie gehen – in Deutschland kaum möglich.

Auch medial würden Menschen auf ihre psychische Erkrankung reduziert, anhand dieses Stichworts werde die Person ausgeblendet. „Es geht nicht darum, die Erkrankung schönzureden“, betont Steffi. Sondern um einen offenen, toleranten Umgang. Dass Menschen eben nicht darauf reduziert werden, depressiv zu sein, Borderline zu haben. Schön sei es, wenn Nichtbetroffene auf ihre Seite stoßen würden und daraufhin anfangen würden, sich Gedanken zu machen.

Steffi findet: Wenn Betroffene lernen, mit der Krankheit zu leben, dann sollte und kann die Gesellschaft das auch.

Hintergrund: Das Krankheitsbild Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist gut therapierbar, aber nicht heilbar. Typisch für die psychische Erkrankung sind Impulsivität, instabile, aber intensive zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild aufgrund von gestörter Selbstwahrnehmung. Hinzu kommen oft selbstschädigendes Verhalten, Gefühle innerer Leere, Dissoziationserlebnisse und Angst vor dem Verlassenwerden.

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Symptome können durch Situationen ausgelöst werden, die andere als normal empfinden. Das kann zu problematischen und teils paradox wirkenden Verhaltensweisen in sozialen Beziehungen und sich selbst gegenüber führen. Betroffene lernen, damit zu leben – auch mit wiederkehrenden depressiven Phasen, die sie oft wieder zurückwerfen.