Siegen-Wittgenstein. Eine neue Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen soll den Schutz Minderjähriger in Siegen-Wittgenstein verbessern
Mit der Einrichtung einer Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen möchte der Kreis Siegen-Wittgenstein die Möglichkeiten zum Schutz von Minderjährigen deutlich verbessern. Angesichts der Sensibilität und Komplexität des Themas legt ein Rahmenkonzept dezidiert Ausgangssituation, derzeitige Schwachpunkte und Ziele dar. Der Jugendhilfeausschuss berät darüber am 2. März, die Entscheidung obliegt am 19. März dem Kreistag.
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Polizei vermutet 15.701 Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in 2019
„Seit 2013 ist die Zahl an gesicherten Fällen von sexualisierter Gewalt um ein gutes Drittel gestiegen“, sagt Landrat Andreas Müller über die Situation in Deutschland. Erfasst seien bundesweit 3.000 Fälle pro Jahr, was im Schnitt 8,2 pro Tag bedeutet. Die Polizei gehe für das Jahr 2019 sogar von 15.701 Fällen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen aus. „Die Dunkelziffer dürfte sogar noch höher sein“, sagt der Landrat. Das Konzept nennt hier geschätzte „Größenordnungen von 250.000 (BKA) bis hin zu 1.000.000 (WHO) betroffener Minderjähriger in Deutschland“. Zu berücksichtigen ist dabei, dass „Fälle“ nicht gleichbedeutend mit „Taten“ sind, da Opfer in vielen Fällen mehrfach oder sogar regelmäßig Übergriffen ausgesetzt sind.
Oft im vertrauten Umfeld
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wird „in allen Teilen unserer Gesellschaft und an allen sozialen Orten verübt“, heiß es im Konzept.
Laut einer Statistik der Bundesregierung seien die Täter dem Kind zu 93 Prozent bekannt, etwa zwei Drittel gehören der Familie oder deren nahem Umfeld an.
Gesicherte Zahlen lägen nicht vor, der Schutzauftrag beziehe sich aber „auch auf dieses Dunkelfeld“. Ebendieses soll dank der neuen Fachstelle beleuchtet werden. „Der unfassbare Missbrauch von Kindern in Lügde ist nur die sichtbare Spitze des Eisberges“, sagt Andreas Müller. „Vieles passiert leider unter dem Radar. Deshalb möchten wir mit unserem Jugendamt stärker für diese Fragen sensibilisieren, die Aufklärung intensivieren und die Präventionsarbeit stärken.“
Jeder Fall ist einer zu viel
Die Fachstelle – besetzt mit einer speziell qualifizierten Fachkraft – soll laut Konzept eine Lücke schließen. Den Ausführungen zufolge geht es nicht darum, bisherigen Akteuren irgendwelche Versäumnisse zu unterstellen, sondern der höchst schwierigen und vielschichtigen Aufgabe besser gerecht werden zu können. „Von den örtlichen Trägern der Jugendhilfe wird von allen Seiten still erwartet, jederzeit ad hoc Expertisen und Expert*innen bereitzustellen“, ist in dem Papier vermerkt. „Doch der Schutz vor sexualisierter Gewalt ist gekennzeichnet durch besondere Herausforderungen, die deutlich über das professionelle sozialpädagogische Alltagswissen der vorhandenen Fachkräfte hinausgehen.“
Es fehlten, anders als in Fällen von Vernachlässigung und Misshandlung, „die durchgehenden Alltagserfahrungen“. Sexualisierte Gewalt sei zu selten ein Thema, um in allen Facetten durchgehend präsent zu sein – gleichwohl kommt sie viel zu häufig vor, weil eben jeder Fall einer zu viel ist.
DIgitalisierung zusätzliche Herausforderung im Kampf gegen sexualisierte Gewalt
Hinzu kommen weitere systemimmanente Punkte:
Die konkrete Fallarbeit führt, wie dem Konzept zu entnehmen ist, bei Helferinnen und Helfern oft zu hohem Druck. „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist unsäglich abstoßend. Anhaltende Belastungen in Fällen, in denen die Erkenntnislage zu gering ist, um kurzfristig intervenieren zu dürfen, können dazu führen, sich professionell ohnmächtig zu erleben, wegzuhören, die Sinne abzuschalten, zu verdrängen und damit notwendiges Handeln lähmen.“
Handlungsdruck und „die Erwartung drohender anhaltender Belastungen“ könnten dazu führen, „dass voreilig zu früh interveniert wird und damit das Schutzversprechen des Staates gegenüber dem Kind unter Umständen nicht erfüllt wird oder nicht mehr erfüllt werden kann“.
Außerdem gebe es eine „besondere Dynamik sexualisierter Gewalt“, mit der ein weiteres Risiko einhergehe: „Im Einzelfall kann es passieren, dass sich Helfer*innen mit den das Kind umgebenden Erwachsenen/Tätern/Mittätern solidarisieren, oder dass professionelle Empathie zur ausgeprägten Parteilichkeit wird.“
Derartige Faktoren führen in den Helferteams „oft zu schlecht auflösbaren Konflikten, Vermeidungsstrategien, Wahrnehmungsverzerrungen und anderen Hemmnissen“, heißt es weiter. „Das hat schon gestandene Teams in den sozialen Diensten in die Dauerkrise entlassen.“
Darüber hinaus findet sexualisierte Gewalt schon längst „oftmals (auch) im digitalen Raum statt oder wird digital angebahnt“. Die Nutzung von Online-Kanälen und -Medien sei für junge Menschen selbstverständlich, doch „demgegenüber sieht sich eine pädagogische Welt, in der fehlende technische Affinität scheinbar Natur gegeben ist“, wie es im Konzept heißt. „Das führt zu inneren Widerständen.“ Es gebe „also eine professionelle Pflicht, sich dahingehend zu qualifizieren, diese Veränderungen nachzuvollziehen und pädagogische Zugänge zu erkennen“. Mit Verboten sei es nicht getan: „Generalverzicht ist erzieherisch keine Option mehr.“
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Fachstelle soll Netzwerk in Siegen-Wittgenstein aufbauen
„Kernelement“ im Konzept der Fachstelle ist eine „Verantwortungsgemeinschaft“, die – so ist es explizit festgehalten – nicht „lediglich auf dem Papier hinterlegt werden“ soll: „Die Überschrift könnte auch im Imperativ lauten ,Machen Sie aus Schnittstellen Nahtstellen!’“ „Wenn Kinderschutz gelingen soll, brauchen wir zunächst ein gemeinsames Grundverständnis und eine gemeinsame Grundhaltung aller Beteiligten“, erklärt Andreas Müller. „Das gilt für uns innerhalb der Kreisverwaltung, aber auch für unsere Partner – zum Beispiel Polizei, Schulen, Gesundheitshilfe, Staatsanwaltschaft oder Gerichte.“
Die Fachstelle kümmert sich in einem ersten Schritt folglich um den Aufbau eines Netzwerks der örtlichen Akteurinnen und Akteure. Sie soll die Kontakte und die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten ermöglichen und fördern und diese darüber hinaus bei der Entwicklung eigener Konzepte in den jeweiligen Handlungsfeldern begleiten. „Dabei soll nicht der einzelne Verein, sondern örtlich die nächste übergeordnete Ebene als Multiplikator gewonnen werden.“ Schulen, Kitas, Kirchengemeinden, Sportvereine und andere Träger der Jugendhilfe „sollen Bedingungen schaffen, die das Risiko senken, zum Tatort von sexueller Gewalt zu werden“, wird im Konzept betont. „Gleichzeitig sollen die betreuten Kinder an diesen Orten kompetente Ansprechpersonen/Vertrauenspersonen finden.“
Die Fachstelle soll den Regionalen Sozialen Dienst unterstützen, Ansprechpartner sein und Weiterbildungen ermöglichen, dank derer Menschen, die mit Kindern arbeiten, Signale richtig deuten können. „Es ist schwierig, nonverbale Botschaften betroffener Kinder und Jugendlicher zu verstehen, die Erwachsenen benötigen ein umfassendes Wissen und Verstehen zum Thema sexualisierter Gewalt“, ist dazu erläutert. In der Ausbildung sollte dies nach Einschätzung des Kreises eigentlich verpflichtend sein, aber „das ist bei Weitem nicht der Fall“.
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