Siegen. Die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen verzeichnet 2020 erneut Anstieg der Fallzahlen.

Die Fallzahlen der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen (ÄB) sind 2020 erneut gestiegen. Das geht aus dem Jahresbericht der an der Siegener DRK-Kinderklinik ansässigen Einrichtung hervor. Verglichen mit 2019 liegt die Steigerung bei drei Fällen gegenüber 2015 bei 66 – das ist ein Zuwachs von rund 51 Prozent binnen sechs Jahren.

Siegen: Ist Corona-Pandemie die Ursache für den Anstieg der Misshandlungszahlen?

„Ob die Ursache des Anstiegs auch in der Corona-Pandemie zu finden ist, darüber gibt es zurzeit noch keine verlässlichen Studien“, sagt Marina Beer, seit Ende 2020 neben Antje Maaß-Quast als zweite Fachkraft in der ÄB. „Jedoch trägt die weiter gestiegene, gute Vernetzung mit anderen Institutionen der Jugendhilfe und der Justiz aus unserer Sicht dazu bei, dass Hilfesuchende den Weg zu uns finden.“ Die ÄB – ein eingetragener Verein – sei zunehmend bekannter. Zudem seien die Themen Missbrauch und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen öffentlich präsenter; dies helfe dabei, „Betroffene zur Inanspruchnahme von Beratung und Unterstützung zu motivieren“, heißt es in einer Mitteilung.

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

28 Prozent der Familien mit Beratungsbedarf kamen aus der Stadt Siegen. Das entspricht 55 Fällen. 45 Prozent (88 Fälle) kamen aus dem übrigen Kreisgebiet. Es folgen der Kreis Olpe (13 %/26 Fälle), Rheinland-Pfalz/Kreis Altenkirchen (7 %/14 Fälle), das übrige Nordrhein-Westfalen (5 %/9 Fälle) und Hessen (2 %/3 Fälle).

Siegen: Mehr Beratungsanfragen für Mädchen

104 Beratungsanfragen bezogen sich 2020 auf Mädchen und junge Frauen, 91 auf Jungen (2019: 109/83). Größere Unterschiede der Meldezahlen nach Geschlechtern zeigen sich im Berichtsjahr im Bereich der unter 3-Jährigen. Hier liegt die Fallzahl der Jungen mit 21 deutlich über der Zahl der gemeldeten Mädchen mit 9 (gleich zu 2019). Bei den 3- bis 6-Jährigen waren es 20 Jungen und 18 Mädchen. In den Berichtsjahren zuvor dominierten ab dem Kindergartenalter die Anmeldungen der Mädchen. Erst ab dem Grundschulalter liegt die Anmeldezahl der Mädchen für 2020 über denen der Jungen.

+++ Lesen Sie auch: Sexueller Missbrauch: Siegener Angeklagte schuldunfähig? +++

24 Prozent der Fälle waren so genannte Selbstmelder (2019: 28 %). Darunter fallen Eltern, die sich eigenständig an die Fachstelle wenden. Bei Fremdmeldern nehmen andere Institutionen Kontakt zur ÄB auf. „Bei den als Selbstmelder verzeichneten Klienten sollte berücksichtigt werden, dass diese teilweise auf Anraten zum Beispiel des Jugendamtes oder der Polizei Kontakt zu uns aufnehmen“, schreibt die Beratungsstelle. Überwiegend sind es Mütter, die diesen Schritt machen. Bei den Fremdmeldern haben die Meldungen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter zugenommen.

Siegen: Bei Mädchen mehr Verdacht auf sexuelle Misshandlung gemeldet als bei Jungen

95 Prozent der Vorstellungen erfolgten wegen Misshandlungssyndromen – also sexueller Missbrauch, Kindesmisshandlung, Vernachlässigung (2019: 99 %). Bei 22 % der Anmeldungen (2019: 21 %) – wurden häusliche Gewalt beziehungsweise emotionale Misshandlung als einer der Anmeldegründe genannt. Vernachlässigung wurde insgesamt in 16 % der Fälle angeführt (2019: 10 %). Der Beratungsbedarf für sexuell übergriffige Kinder/Jugendliche war in neun Fällen Anmeldegrund (2019: 15).

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

54 Prozent der Mädchen (56 Nennungen) wurden wegen des Verdachts auf sexuelle Misshandlung gemeldet. Damit steht dieser Bereich an erster Stelle. Bei den Jungen ging es vorwiegend um körperliche Misshandlung (58 %, 53 Nennungen), gefolgt von dem Verdacht auf emotionale Misshandlung (36 %, 33 Nennungen). Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch wurde bei den Jungen in rund jedem vierten Fall (26 %) genannt (2019: 29 %).

Siegen: Ärztlichen Beratungsstelle auch in Corona-Zeiten erreichbar

Die Netzwerkarbeit in der Region konnte 2020 trotz Pandemie weitergeführt werden – auch wenn sogenannte Fachtage mit persönlichem Austausch kaum möglich waren. Dafür war die ÄB trotz Corona-Bedingungen telefonisch und in Präsenz für die Familien erreichbar. Termine für Erstgespräche wurden innerhalb von 14 Tagen vergeben und die Fachkräfte konnten „auch eine zeitnahe Weiterarbeit gewährleisten“.

Neben der direkten Beratung von Betroffenen und deren Angehörigen haben 33 professionelle Helferinnen und Helfer von Jugendämtern, Familienhilfeeinrichtungen, Schulen und Familientagesstätten eine kollegiale Beratung in Anspruch genommen. Für die betroffenen Kinder und ihre Familie haben „multiprofessionelle Zugänge der Diagnose, Beratung und Therapie in diesen Zusammenhängen eine ganz besondere Bedeutung“, ist in den Ausführungen erläutert. Hier liege eine große Chance, „aber auch eine besondere Herausforderung in der Zusammenarbeit der verschiedenen Abteilungen der Kinderklinik im Blick auf eine gelingende und auf das Kindeswohl ausgerichtete Vernetzung untereinander und mit weiteren Institutionen nach außen“.

+++ Lesen Sie auch: Sexueller Missbrauch von Kindern: Siegener in Psychiatrie +++

Die Ansätze werden auch im laufenden Jahr fortgeführt. Sobald es die Pandemie-Situation wieder zulässt, werden Ärztliche Beratungsstelle und Kinderschutzgruppe zum Beispiel vertiefende Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer sowie pädagogische Fachkräfte zum Thema „Erkennen und Vorgehen bei Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen“ anbieten. Darüber hinaus wird erneut ein Vortrag für Studierende des Fachbereichs Biologie/Lehramt zum Thema „Vernachlässigung und Misshandlung an Kindern und Jugendlichen/Kinderschutz“ an der Uni Siegen gehalten. Ausgelöst durch einige Anfragen sind im Zuge der präventiven Arbeit in Kindertagesstätten und Kindergärten Veranstaltungen oder Elternabende zum Thema „Körper, Kuscheln, Doktorspiele – kindliche Sexualität besser verstehen lernen“ geplant.

+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++

+++Täglich wissen, was in Siegen und dem Siegerland passiert: Hier kostenlos für den Newsletter anmelden!+++