Siegen. „Sehr schlimme Dinge“ musste ein Geschwisterpaar im extrem religiösen Elternhaus erleben, wie der Nebenklagevertreter vor Gericht in Siegen sagt.

Es seien noch „viele, viele Fragen offen“, erklärt Amtsrichterin Dr. Hanne Grüttner. Aber am Ende des Verfahrens gegen ein Elternpaar, dem gemeinsame Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen vorgeworfen wird, geht es um das Wohl der Kinder (acht und sechs), die nach wie vor unter den Folgen leiden. Sie sollen durch weitere Gutachten und Untersuchungen nicht weiter belastet werden. Die Eltern bekommen jeweils zwölf Monate auf Bewährung. Nach einer Verständigung.

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Die Verteidiger haben zunächst ein Schweigen ihrer Mandanten angekündigt, direkt aber auch um ein Rechtsgespräch gebeten. Danach wird die Anklage auf gemeinsame Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht durch Unterlassen geändert, werden Höchststrafen von maximal zwölf Monaten mit Bewährung zugesichert. Gegen Geständnisse, die der Nebenklagevertreter später als „zumindest ein Anfang“ wertet.

Siegen: Elternpaar setzte laut Nebenklagevertreter auf Devise „Gott wird es richten“

Am 31. März 2017 wird der ältere Sohn mit zwei gebrochenen Oberschenkeln in die Kinderchirurgie aufgenommen. Die Ärzte stellen einen früheren und schlecht verheilten Schienbeinbruch fest, dazu bei beiden Kindern Mangelerscheinungen aus schlechter Ernährung, Folgen von Tageslichtentzug und die völlige Unfähigkeit, mehr als nur gutturale Laute von sich zu geben. „Sehr schlimme Dinge“ müssten geschehen sein, betont der Nebenklagevertreter und berichtet, die Ärzte und Sozialarbeiter hätten kaum je vergleichbares zu Gesicht bekommen. „Sie haben doch auch gesehen, wie andere Kinder aufwachsen, wie die aussahen“, hält er den Angeklagten vor: „Sie haben Ihre Kinder versteckt. Sie wussten auch, warum!“

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Der Vater ist 34, die Mutter ein Jahr jünger. Sie seien mit Mitte 20 zu jung für Kinder gewesen, trägt einer der Anwälte für den Mann vor. Beide seien in Kasachstan in großer Armut und in einer sehr religiös geprägten Umwelt aufgewachsen. Dort sei es nicht üblich gewesen, zu einem Arzt zu gehen. „Gott wird es richten“, sei die Devise gewesen.

Kindesmisshandlung in Siegen: Angeklagte Eltern haben keine Therapie begonnen

Letztlich hätten die beiden ihre Kinder genauso behandelt, wie sie selbst erzogen worden seien. Sie habe als Kind O-Beine gehabt, die von selbst verschwunden seien. Inzwischen ist das Paar geschieden, lebt aber im Märkischen Kreis in einer gemeinsamen Wohnung in einer WG zusammen. „Sind Sie wieder ein Paar?“, fragt die Vorsitzende. Die Angeklagte verneint.

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Heute sähen beide ihr Verhalten kritisch, hätten sich von der extremen religiösen Einstellung distanziert, ist von der Verteidigung zu hören. Die junge Frau ist für das familienrechtliche Verfahren begutachtet worden, hat sich auf eigenen Wunsch noch nachbegutachten lassen. Sie arbeitet in einer Senioreneinrichtung. Eine Therapie haben beide nicht begonnen.

Siegen: Langfristige Folgen der Misshandlung für die Kinder noch nicht abzusehen

„Er ist nach wie vor entsetzt über das, was geschehen ist“, erklärt der Anwalt des Vaters und erstreckt seine Erklärung auf beide Angeklagte. Vorbestraft sind sie nicht. Der Staatsanwalt beantragt die vereinbarte Strafhöhe und Geldbußen von 400 respektive 250 Euro. Die Verteidiger bleiben mit ihren Anträgen darunter.

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Dr. Hanne Grüttner spricht die jeweils zwölf Monate auf Bewährung aus, geht bei den Geldbußen aber nach oben. Er soll 600, sie 400 Euro an den Verein „Kinderzuhause“ in Burbach zahlen. Vieles müsse zum Wohle der Kinder offen bleiben. Niemand wisse genau, was in den gut vier Jahren seit der Geburt des ersten Sohnes geschehen sei. Aus den Akten ließen sich nur Eindrücke gewinnen.

Fest stehe, dass die Folgen noch gar nicht abzusehen seien. Der Ältere habe bis heute große Probleme mit dem Laufen. Für den Nachweis des Quälens oder der groben Misshandlung gebe es keine ausreichenden Beweise und hier auch keine Vergleichsmöglichkeiten, „weil solche Fälle Gott sei dank sehr selten sind“. Zumindest eine Wiederholungsgefahr sieht die Richterin nicht.

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