Siegen. Großer Andrang: Hauptsache kein Homeschooling, kein erneuter Schul-Lockdown. Kinder, Jugendliche und Eltern dankbar für Impfangebot in Siegen
Das Impfzentrum brummt wie eine gut geölte Maschine. Am ersten Tag der Impfungen auch für 12- bis 15-Jährige ist der Andrang enorm, gerade von Minderjährigen in Begleitung ihrer Erziehungsberechtigten. Die Stimmung ist gelöst, fast ausgelassen: Die Beschäftigten haben den ehemaligen Baumarkt dekoriert, am Ausgang gibt es Häppchen und Getränke, über Mund-Nase-Masken strahlende Augen. Mit buntem Filzstift sind zwei Stellwände vollgeschrieben: „Vielen Dank für alles!“ steht da, „Geniales Team“ und einfach nur „Endlich“. Endlich die ersehnte Impfung. Von der viel beschriebenen Impfmüdigkeit keine Spur.
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„Endlich wieder mit Freunden treffen und auch mal Party machen“, sagt Merle Schöne. Die 15-Jährige hat gerade ihre erste Impfdosis bekommen, ihr Vater Andreas hatte den Termin für sie gemacht, kaum, dass er von der Möglichkeit gehört hatte. Und Merle hat noch einen viel wichtigeren Grund, sich immunisieren zu lassen: Ihre kleine Schwester hat Mukoviszidose. Die Familie war von Beginn der Pandemie an besonders vorsichtig, gerade mit der Lungenkrankheit gibt die Coronaschutzimpfung noch einmal Sicherheit.
Corona-Infektionen durch U16-Impfungen in Siegen-Wittgenstein beherrschbarer
Die kann die Familie Schöne und wohl alle anderen, die an diesem Tag ins Impfzentrum nach Eiserfeld gekommen sind und in den nächsten Wochen noch kommen werden, dringend gebrauchen – mit Blick auf das näherrückende Ferienende und die vierte Welle der Pandemie, bei der wohl nicht mehr die Frage ist, ob, sondern wann sie kommt. „Delta wird uns einholen“, sagt Dr. Thomas Gehrke, der Leiter des Impfzentrums. Bitte nicht noch ein Lockdown, nicht noch mehr Homeschooling, so die Hoffnung. Manuela Schöne, Merles Mutter, ist Lehrerin, „wir müssen viel mehr auffangen als Lehrdefizite“, sagt sie.
Dass die Impfung Heranwachsender entscheidend dazu beitragen kann, das Infektionsgeschehen in den Schulen beherrschbarer zu machen – unstrittig. Wo viele Menschen zusammenkommen, wird das Virus kursieren, erst recht in der ansteckenden Delta-Variante. „Anderthalb Jahre hatten wir nur die Kontaktnachverfolgung, um den Infektionsschutz unter Kontrolle zu bekommen“, sagt Thiemo Rosenthal, verantwortlicher Dezernent beim Kreis Siegen-Wittgenstein, „jetzt haben wir mit den Impfungen ein hochwirksames Werkzeug.“ Gerade für junge Menschen. Denn die sind aktiver, treffen mehr Menschen – „das macht bei der Kontaktverfolgung sehr viel Arbeit“, so Rosenthal.
Siegener Kinder- und Jugendarzt: Junge Menschen mit Corona meist symptomlos
Bildungseinrichtungen seien nun mal eine Drehscheibe für das Virus, sagt Prof. Alexandra Nonnenmacher, Bildungs-Prodekanin der Uni Siegen. Infizierte junge Menschen sind großteils symptomlos, sagt der Kinder- und Jugendmediziner Dr. Herbert Vitt. Sie tragen das Virus unbemerkt aus den Schulen in die Haushalte. „Die höchste Inzidenz haben wir bei den 15- bis 33-Jährigen“, so Vitt, das Alter werde nach den Ferien noch sinken.
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Dass Bildung mehr ist als Unterricht – ebenfalls unstrittig. Wie wichtig, das will der Forschungsverbund der Universitäten Siegen und Saarland sowie der Unikliniken Bochum und Saarland zusammen mit dem Kreis herausfinden. Die Studie, die in die Prozesse zur Impfung Heranwachsender im Siegener Impfzentrum integriert wird und die nach einigen Querelen nun mit Verzögerung startet, untersucht genau das: Die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, den Erfolg der Impfkampagne, Gründe für die Impfbereitschaft, Auswirkungen der Immunisierung junger Menschen im lange vernachlässigten Bildungswesen. Bulimie hat unter Mädchen drastisch zugenommen, sagt Dr. Gehrke, genauso Spielsucht bei Jungen. „Bildung ist auch soziale Entwicklung“, sagt er – das sei monatelang viel zu kurz gekommen.
Erkenntnisse aus Siegener Impfstudie „schneller als die vierte Welle“
Nach dem Piks in den drei U-16-Impfstraßen mit insgesamt sechs Kabinen können die jungen Teilnehmer einfach einen QR-Code scannen und während der vorgeschriebenen Wartezeit Fragebögen der Studie beantworten. Wer kein Handy dabei hat, dem händigen studentische Beschäftigte ein Tablet aus. Auch hier: Hohe Nachfrage. Im Herbst sollen die ersten Ergebnisse vorliegen, mit Kreisen mit anderen Impfquoten in dieser Altersgruppen verglichen werden und damit die so dringend benötigten Erkenntnisse für Maßnahmen liefern. „Wir werden schneller sein als die vierte Welle“, verspricht Thomas Gehrke.
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Hauptsache, kein Bildungs-Lockdown mehr. „In der Praxis merkt man erst, wie viele Jugendliche ihre Freiheiten wiederhaben möchten“, sagt Dr. Vitt. Übergewicht, Angststörungen, Verhaltensauffälligkeiten nähmen zu, „es darf kein Homeschooling mehr geben.“ Dies werde in der immer noch zurückhaltenden Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) zur Impfung 12- bis 15-Jähriger nicht genug berücksichtigt, so seine Einschätzung.
Die befürchtete Situation in den Schulen treibe auch die Eltern an, berichtet Vitt, „das ist auch für uns Ärzte die Motivation, zu impfen.“ Täglich arbeite er eine lange Telefonliste ab mit Beratungsanfragen rund um die Coronaschutzimpfung Heranwachsender. Auf die leichte Schulter werde das nicht genommen, viele seien unsicher, hätten großen Informationsbedarf. Also wird gründlich aufgeklärt, natürlich auch im Impfzentrum. Vitt sagt: „Die, die jetzt kommen, wollen unbedingt geimpft werden.