Siegen. Wer heute ein Start-up gründet, hat meist recht genaue Ideen, wie er sich die Arbeitswelt von Morgen vorstellt. Zu Besuch im Gründerwerk Siegen.
Wie die Arbeitswelt der Zukunft vermutlich aussehen wird, zeichnet sich dort ab, wo gegenwärtig ihre Anfänge liegen. Gründerinnen und Gründer von heute bringen ihre Unternehmen unter anderen Voraussetzungen, mit anderen Abläufen und auf Grundlage anderer Lebensentwürfe an den Start als vorangegangene Generationen. Gesine Westhäuser , geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Gründungsinitiative Startpunkt 57 , und Chantal Schulte , Gründungsberaterin beim Gründerwerk der Sparkasse Siegen , kennen die Trends.
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Siegen: Welche Rolle Digitalisierung für Gründerinnen und Gründer spielt
Dass an Online-Präsenz und digitalen Kanälen kein Weg mehr vorbeiführt, geht in seiner pauschalen Aussage mittlerweile fast als Binsenweisheit durch. Dahinter steckt aber wesentlich mehr, als die simplen Schlagworte spontan erahnen lassen. Gerade jüngere Menschen, die Digital Natives , würden die digitalen Möglichkeiten und Dimensionen meist automatisch mitdenken. „Aber es gibt auch junge Gründer, die das nicht so auf dem Schirm haben“, sagt Chantal Schulte.
– Ausmaß . Die Bandbreite, die das Digitale einnehmen kann, ist riesig. „Man muss mindestens mal im Internet vertreten sein – und sei es nur mit einem One-Pager mit Links zu den Social-Media -Kanälen“, betont Gesine Westhäuser. Manche Gründer mit physischen Produkten würden aber auch direkt komplett digital denken, von vorneherein kein reales Ladenlokal in Betracht ziehen und ausschließlich auf einen Online-Shop setzen. Das gilt natürlich erst recht, wenn es sich um ein rein digitales Produkt wie eine App oder sonstige Anwendungen handelt. Doch auch Handwerk und Real-World-Dienstleistungen kommen um die Technik nicht herum. „Arbeitsabläufe werden heute einfach anders organisiert“, sagt Chantal Schulte und gibt Beispiele: „Dachdecker nutzen Tablets und digitale Tools , Fahrlehrer organisieren ihren Arbeitstag über Apps.“
– Präsenz . „Je nach Produkt ist der Gründer, ist die Gründerin die Marke “, sagt Gesine Westhäuser. Die Person hinter dem Produkt rücke viel stärker als früher in den Blickpunkt. „Wir haben das gerade im Lockdown gemerkt: Viele waren gezwungen, live zu gehen, etwa mit Live-Stories auf Instagram. Manche kostete das schon Überwindung.“ Oft gehe es dabei um die Verlagerung der Dienstleistung aus dem direkten in den digitalen Kontakt – etwas bei Fitnesskursen, die nicht mehr im Studio, sondern auf Youtube stattfinden, oder Coachings über Distanz anstelle von Präsenzunterricht. In der Krise „haben viele Gründer viel dazu gelernt“, sagt die Expertin.
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Bei anderen Start-ups sei die Person hingegen von Grund auf Teil des Produkts: Wenn sie sich auf Social Media so offensiv damit verknüpft, dass sie in der Wahrnehmung der Kundschaft damit fest verbunden ist. Manche Gründerinnen und Gründer präsentierten sich „wie ein offenes Buch“, sagt Gesine Westhäuser. „Ich werde als Follower Teil einer Community . Im Extremfall nimmt der User sogar am Alltag teil. Und das Produkt steht dann auch für die Person.“ Gesine Westhäuser erzählt das wertfrei. Es ist ein Geschäftsmodell und eine Typfrage, „man muss das auch wollen.“ Wer an dieser Stelle zurückhaltender ist, könne sich professionelle Unterstützung holen, um sein Start-up online zu promoten, ergänzt Chantal Schulte. Es sei vielleicht nicht für jeden der geeignete Weg, „aber man sollte es auch nicht pauschal ausschließen. Dafür ist die Zeit nicht die richtige.“
Ausgangspunkte für Gründungen in Siegen und Umgebung
Die Perspektiven, mit der heutige Start-ups antreten, unterscheiden sich nach der Erfahrung der Expertinnen häufig sehr von der früherer Gründerinnen und Gründer.
– Lebensentwürfe . In den 1950ern etwa ging es oft noch darum, etwas für Generationen zu schaffen, den Grundstein für Dynastien zu legen, etwas Dauerhaften aus der Taufe zu heben. „Heute ist das nicht mehr so der Gedanke“, sagt Gesine Westhäuser. Die Einstellung sei eher, „ich mache das ein paar Jahre, dann steigt der Unternehmenswert, dann verkaufe ich“. Die Zeit sei wesentlich schnelllebiger. Wer ein Café oder eine Kneipe eröffne, der denke sicherlich in längeren Zeiträumen. „Aber heute weiß jeder: Ein digitales Produkt ist nichts für die Ewigkeit, nach drei Jahren kann es schon wieder überholt sein.“ Langfristige Perspektiven zu formulieren sei deshalb schwieriger.
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„Eine Lebensplanung für die nächsten 40 Jahre hat heute kaum ein junger Mensch.“ Nicht zuletzt habe auch die Corona-Pandemie gezeigt, wie zerbrechlich das Gefüge sei. „Die Menschen machen die Erfahrung, dass sie flexibel bleiben müssen, um Entwicklungen ins Positive zu drehen“, unterstreicht Chantal Schulte. Außerdem hätten sich Werte verändert: „Man macht heute beruflich eher das, was man möchte. Anders als früher wird man nicht mehr unbedingt in ein Unternehmen hinein geboren, das man später auf jeden Fall übernehmen soll.“
– Keimzellen . „Auffällig ist, dass heute oft im Team gegründet wird“, berichtet Chantal Schulte. Der alte Patriarch, die alte Patriarchin, zu deren Mythos (oder auch realer Vita) es gehört, ein Unternehmen quasi im Alleingang groß gemacht zu haben, ist nicht mehr das heutige Ideal. Stattdessen treten Teams an, multikulturell und interdisziplinär zusammengesetzt. „Gerade das Ergänzende spielt eine Rolle“, erklärt die Gründungsberaterin. So fänden Maschinenbauer und Programmierer , Marketing - und Social-Media -Fachleute zueinander, die in einer digitalisierten Welt nicht einmal mehr am selben Ort sein müssten, um in Echtzeit zusammenarbeiten zu können. Modelle wie Co-Working-Space s , in denen Menschen sich temporär Arbeitsräume mit anderen teilen und so mit diesen in Kontakt kommen und neue Ideen entwickeln, trügen dem Rechnung und würden in Zukunft sicher noch an Bedeutung gewinnen.
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– Netzwerke . Gerade für Gründerinnen und Gründer sei es wichtig, Zugang zu Netzwerken zu haben, wie Gesine Westhäuser erläutert. Für Start-ups „geht es heute oft weniger um Geld, sondern um Kontakte , Kontakte, Kontakte.“ Dies werde auch die Arbeitswelt von Morgen zu wesentlichen Teilen prägen. Startpunkt 57 und Gründerwerk seien Einrichtungen, die solche Brücken bauen, die Ideengeber mit Produktentwicklern , Marketingexperten mit Handwerkern zusammenbringen.
Vor allem gehe es aber auch um Plattformen, um Start-ups mit etablierten kleinen und mittelständischen Unternehmen bekannt zu machen, „um Projekte anzustoßen und Anknüpfungspunkte zu schaffen“, wie Gesine Westhäuser sagt. Die Start-ups könnten so wichtige Impulse und Unterstützung erhalten – und die bereits etablierten Unternehmen bleiben am Puls der Zeit und profitieren von der Innovationskraft. Das Potenzial eines solchen Austauschs werde noch deutlich mehr Bedeutung gewinnen.
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Gründungen in Siegen in Gegenwart und Zukunft: Die Bedeutung von Nachhaltigkeit
Die Arbeitswelt der Zukunft wird wahrscheinlich auch das Bedürfnis der nachwachsenden Generationen widerspiegeln, flexibler zu bleiben und nicht ein ganzes Arbeitsleben hindurch denselben Job am selben Ort machen zu wollen. Gleichzeitig werden Produkte und Abläufe den veränderten Prioritäten von zumindest Teilen der Gesellschaft Rechnung tragen. „Das Thema Nachhaltigkeit steht im Fokus“, sagt Chantal Schulte. Viele Kunden würden sich inzwischen für Herstellungsprozesse, Lieferketten , Umweltaspekte von Produktion und Vertrieb interessieren; die Nachfrage beispielsweise nach vegan en Produkten steige, Fairer Handel gewinne an Bedeutung. „Es ist ein ganz neuer Markt“, so Gesine Westhäuser. Und der ziehe auch neue Strukturen in der Arbeitswelt nach sich.
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