Siegen-Wittgenstein. Die Schwächsten trifft es am stärksten: Kindesmisshandlung zieht sich in Corona-Krise durch alle Milieus, sagt Prof. Kathinka Beckmann in Siegen.

„Wir kratzen an der Oberfläche“, sagt Kreissozialdezernentin Helge Klinkert. Beim Thema Kindesmisshandlung und -missbrauch seien alle staatlichen Ebenen gefordert: Bis zu sieben Mal sendeten betroffene Kinder Signale an ihr Umfeld, bis Hilfe angeboten werde, so Klinkert im Kreisgesundheitsausschuss. Es gelte, Personal in allen Bereichen zu sensibilisieren, damit nicht sieben Hilferufe ausgesendet werden müssen.

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Die Situation der Familien in der Corona-Krise

Risikofaktoren, sagt Prof. Kathinka Beckmann, die an der Hochschule Koblenz zum Thema forscht, seien externe wie finanzielle oder Wohnverhältnisse, Erkrankung oder Sucht der Eltern oder auch dass Kinder krank oder unerwünscht sind. „Keine Gruppe ist so stark Gewalt ausgesetzt, wie Kinder mit Behinderungen“, sagt Beckmann. Die Krise verstärke das noch. „Die Schwächsten sind am stärksten betroffen“, sagt sie. Viele Eltern litten unter Stress, das könne zu Hilflosigkeit, Überforderung, Ohnmacht und schließlich Aggression führen – und auch eigentlich gute, treusorgende Eltern treffen.

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Während des Lockdowns kämen vor allem Geldsorgen, Existenzängste, womöglich schon beengte Wohnverhältnisse, aus denen man wenig entfliehen konnte, zum Tragen. „Viele Kinder sind nicht gefährdet, weil sie schlechte Eltern haben, sondern weil die Eltern sich Sorgen machen“, so die Professorin. Hier sei die Jugendhilfe gefragt, „ganz viel zu unterstützen.“ Der Deutsche Ethikrat habe früh kritisiert, dass der Kinderschutz dem Infektionsschutz untergeordnet wurde – die Folgen sehe man jetzt.

Das Hellfeld: 15.936 Fälle von Kindesmissbrauch im Jahr 2019 in Deutschland

„Wir brauchen kein Dunkelfeld, das Hellfeld ist schon schlimm genug“, sagt Kathinka Beckmann. Für 2019 wisse man von 112 getöteten, 4100 misshandelten, 15.936 sexuell missbrauchten Kindern, 90 Prozent aller Taten aus dem häuslichen Kontext. „Potenziell sind es noch viel mehr – aber drei tote Kinder pro Woche in Deutschland ist schon schlimm genug.“ Jeden Tag würden elf Kinder so schwer verletzt, dass ein Arzt den Fall der Polizei meldet. 44 Kinder werden am Tag sexuell missbraucht. „Zuhause ist für diese Kinder kein sicherer Ort.“

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Aus Opfern werden Täter: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind dieselbe Gewalt erlebe wie die Mutter, liege bei 70 Prozent, so Beckmann. Ein Erklärungsansatz: Ehemalige Opfer versuchen ihren Opferstatus, die Ohnmacht zu überwinden, indem sie die Rolle wechseln. Das betreffe auch Jugendliche, die sich schwächere Opfer suchen – Geschwister etwa. Im häuslichen Umfeld seien nicht immer Eltern die Täter. Kinder wehren sich nicht, Gewalt bricht über sie herein, „sie werden vor dem Schlagen nicht gefragt“, sagt Beckmann, aber sie sind körperlich absolut unterlegen.

Täterstrategien: Kinder unter Druck setzen, um in den Missbrauch „einzuwilligen“

Bei sexualisierter Gewalt, für die tatsächlich Pädophilie eher seltener die Ursache sei, manipulierten viele Täter die Kinder so, dass sie einem „Spiel“ zustimmen, unter völlig falschen Voraussetzungen. Hängen bleibt: Das Kind hat Ja gesagt, erklärt Beckmann. Dass die Opfer so auf grausame Weise zum Komplizen gemacht werden, nicht wussten, worauf sie sich einlassen, sei nur in diesem Gewaltbereich zu finden. Nicht petzen, gemeinsame Geheimnisse nicht verraten, Geschenke, Drohungen, Druck, Komplizenschaft – Täter setzen all das ein, damit Kinder ihre eigene körperliche und seelische Unversehrtheit dem Schutz der Familie unterordnen.

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„Täter sind nicht 365 Tage im Jahr schlechte Menschen“, sagt Beckmann, „die Kinder lieben sie trotzdem“, weil es auch gute Momente gebe. Und wenn sie Hilfe suchen, ist womöglich nicht nur das Böse vorbei – sondern auch das Gute.

Gegenstrategien: Corona-Krise auch eine Chance, Personal aufzustocken

Wenn Kinder auffällig sind, kann es auch um Gewalt gehen, sagt Kathinka Beckmann. Das genau zu erkennen, brauche viel Feingefühl und Erfahrung. „Wir müssen die Signale entschlüsseln“, so die Professorin – und das sei bei vielen Kindern in Kitas und Schulen schwer fürs Personal. „Wir müssen akzeptieren, dass es überall passieren kann, in jedem Milieu.“ Statistisch gebe es in jeder Schulklasse zwei betroffene Kinder. Anlaufstellen seien wichtig (siehe Zweittext), die Erreichbarkeit des Jugendamts, gerade abends und an Wochenenden. „Man klingelt sich oft trotz Bereitschaft die Finger wund“ – das Jugendamt habe nicht genug Personal. Die Krise biete die Chance, nachzubessern und mehr Stellen zu schaffen. Hausbesuche etwa scheiterten im Lockdown oft an Schutzkleidung. „Die ‘ideale’ Situation für Täter“, sagt die Expertin, „sie konnten tun und lassen, was sie wollten.“

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Zumal Fachkräfte des Jugendamts nicht automatisch Kinderschutzexperten seien, weil das kein Pflichtfach im Studium sei. Das müsse sich ändern, auch für Erzieher und Lehrkräfte. Laut Pia Cimolino, Leiterin des Kreisjugendamts, soll mit elf zusätzlichen Stellen im Regionalen Sozialen Dienst auch das Thema Kindeswohl verstärkt in Kitas und Grundschulen getragen werden. In jeder Kita etwa soll eine Erzieherin entsprechend weitergebildet werden.

DRK-Kinderklinik Siegen: Chirurgie-Chefarzt sieht viele Kinder mit Verletzungen

Als Chirurg hat Dr. Stefan Beyerlein mit vielen Kindern zu tun, „die nicht immer durch Unfälle verletzt wurden.“ In der Kinderschutzambulanz sehe man viele Verdachtsfälle, mehr körperliche als sexuelle Gewalt. Letztere mache etwa 20 Prozent aus. Sexueller Missbrauch betrifft nicht nur Handlungen an, sondern auch vor Kindern. „Im Kontakt muss man auf viele kleine Dinge achten“, so Beyerlein.

Schwere Verletzungen können nach zwei Wochen so weit verheilt sein, dass ein eindeutiger Befund nicht mehr möglich ist. „Wir brauchen Leute, die auf diese kleinen Signale reagieren können“, sagt der Chefarzt – es brauche dazu medizinische Expertise, Kitas und Schulen eine zuverlässige Anlaufstelle. Die Vernetzung der zuständigen Institutionen sei in der Region sehr gut.

Misshandelte Kinder als Erwachsene „meist sehr krank und kaputt“

Etwa zwei Drittel ihrer Fälle betreffe Mädchen, schon ab dem Kindergartenalter, sagt Antje Maas-Quast, gegen Gewalt an Kindern. Manche könnten noch gar nicht sprechen. Nach dem Lockdown, ab Juli etwa, hatte sie mit extrem vielen Meldungen zu tun. „Die Kontakte außerhalb der Familie fehlten, die Kinder teilen sich in der Gemeinschaft der Täter nicht mit.“ Die Hemmschwelle des weiteren Umfelds sei oft hoch. „Es kommt vor, aber sehr selten.“

Die meisten Fälle erreichen die über die Mütter sowie Schulen und Kitas, sagt Sozialarbeiterin Melissa Thor. „Fälle aufzuklären und Vertrauen aufzubauen braucht lange“, sagt sie, viele Opfer würden erst spät reden, oft erst als Jugendliche oder Erwachsene. Das bestätigt Regina Wagner vom Weißen Ring: Misshandelte Kinder seien als Erwachsene „meist sehr krank und kaputt.

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