Siegen-Wittgenstein. 100 Fälle sexualisierter Gewalt betreut die Beratungsstelle für Mädchen in Not in Siegen und Kreuztal im Jahr. Nur drei bis vier werden angezeigt

Rund 100 Fälle betreut die Beratungsstelle für Mädchen in Not pro Jahr. In den Büros in Siegen und Kreuztal helfen die Mitarbeiterinnen zum überwiegenden Teil Mädchen und jungen Frauen dabei, den Missbrauch zu unterbrechen. In den wenigsten Fällen werden die Täter zur Verantwortung gezogen: Bei 100 Fällen kommt es in drei bis vier zur Anzeige. Und von denen landet nicht jede vor Gericht.

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Die Betroffenen sind gefangen in einer Zwickmühle: Der Vater ist nicht zu jeder Zeit böse. Sie würden ihre Familie aufs Spiel setzen, wenn sie ihn anzeigen. Und nicht jeder Prozess, ohnehin äußerst belastend für die Opfer, endet mit einem Schuldspruch, auch wenn den Kindern geglaubt wird. Die Beratungsstelle hat jetzt ihren Jahresbericht 2019 vorgelegt.

Die meisten Klientinnen der Beratungsstelle für Mädchen in Not sind 15 bis 18 Jahre alt

99 Fälle haben die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle für Mädchen in Not 2019 betreut: 91 Mädchen und junge Frauen, sieben Jungen sowie ein anonymer Fall.

Sozialpädagogin Katharina Heinrich
Sozialpädagogin Katharina Heinrich © Hendrik Schulz

15 bis 18 Jahre: Aus dieser Altersgruppe kommen mit 31 Fällen die meisten Betroffenen. „Erst in diesem Alter haben sie oft die Chance oder den Mut, Kontakt zu uns aufzunehmen. Der Missbrauch fand oft bereits seit dem Kindesalter statt“, sagt Melissa Thor, die stellvertretende Leiterin der Beratungsstelle. Die jüngste Klientin sei keine drei Jahre alt.

Sexualisierte rituelle Gewalt – besonders grausam und für die Beraterinnen neu

76 Betroffene kommen aus Siegen-Wittgenstein, 28 allein aus Siegen, wo die Beratungsstelle ein zweites Büro unterhält. Die übrigen Fälle wohnen in Nachbarkreisen oder wollten ihren Wohnort nicht nennen.

68 Fälle von sexualisierter Gewalt machen den Großteil der Arbeit der Beratungsstelle aus, acht mehr als im Vorjahr. Darunter erstmals zwei Fälle von sexualisierter ritueller Gewalt. Eine besonders grausame Tat, bei der in religiösem Kontext das Kind in einer Art Zeremonie missbraucht wird. „Das war auch für uns eine neue Situation“, sagt Katharina Heinrich, mit so etwas hatten sie auch noch nicht zu tun. An zweiter Stelle folgt körperliche und psychische Gewalt mit 36 Fällen.

Meistens wenden sich Frauen an die Beratungsstelle für Mädchen in Not

25 Beschuldigte sexueller Gewalt (von insgesamt 69) sind Verwandte: Zwölf Väter, sieben Stiefväter oder Lebensgefährten, drei Großväter, ferner Stiefbrüder, Cousins und auch eine Tante, die einzige Frau unter den Tätern. 13 Täter stammten aus dem Umfeld der Kinder, die Zahl der Fremdtäter stieg auf zehn. In fünf Fällen war der Partner der Klientin der Täter.

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7 übergriffige Jungen im Kindergartenalter sind nicht auf eine Zunahme der Fälle zurückzuführen, sondern eine stärkere Sensibilität der Beschäftigten dort, die verstärkt auf „Doktorspiele“ achten, erläutert Melissa Thor.

Die stv. Leiterin Melissa Thor
Die stv. Leiterin Melissa Thor © Hendrik Schulz

22 Mütter wandten sich für ihre Töchter an die Beratungsstelle, 17 Mädchen kamen von sich aus, 16 Mal nahmen Schulen den Kontakt auf, in 24 Fällen waren es Institutionen wie das Jugendamt. „Meist melden sich Frauen bei uns“, sagt Katharina Heinrich.

Beratung für Mädchen in Not inzwischen auch per WhatsApp

257 persönliche Kontakte hatten die Mitarbeiterinnen im Jahr 2019, führten 132 Telefonate und schrieben 387 Nachrichten. Denn die Beratungsstelle hat inzwischen einen WhatsApp-Chataccount, an den sich Mädchen nach vorheriger Anmeldung wenden können. Gerade für Jüngere sei es einfacher und senke Hemmungen – ist der Täter in der Familie, kann er das Kind kontrollieren.

22 Präventionsveranstaltungen führten die Mitarbeiterinnen durch – Tendenz und Bedarf deutlich steigend. An drei Kooperationsschulen wurde einmal im Monat eine Kindersprechstunde angeboten. Auf Vermittlung der Lehrer suchen die Sozialarbeiterinnen aber auch andere Schulen auf, wenn dort Bedarf besteht. „Wenn sich Kinder den Lehrkräften öffnen, kommen wir auch dorthin, damit die Eltern nicht merken, dass die Kinder noch woanders sind als in der Schule.“

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