Siegen. In der Corona-Krise rücken die Arbeitsbedingungen in der Pflege in den Fokus. Siegener Pflegekräfte hoffen, dass danach endlich etwas besser wird.

Viele Pflegekräfte fühlen sich alleingelassen. In erster Linie von der Politik, aber auch von Geschäftsführungen der Krankenhäuser und Senioreneinrichtungen. Auch wenn die Corona-Krise den öffentlichen Blick wieder auf die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte gelenkt hat: Verbessert hat sich dadurch zunächst wenig. „Die Zustände werden zeitweise immer unerträglicher“, sagt Sabine Reuter, Krankenschwester und Sprecherin der Initiative „Pflege am Boden“ im Namen vieler Pflegekräfte.

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Die Situation

Personalmangel: Durchschnittlich zehn Jahre sei eine Pflegekraft noch in diesem Beruf tätig, sagt Sabine Reuter, dann stiegen viele aus. Ausgebrannt, kaum Nachwuchs, steigende Krankmeldungen, abschmelzendes Privatleben, Dokumentation statt Menschen helfen – „man kann den Leuten keinen Vorwurf machen“, sagt Uwe Tron, Vorsitzender Mitarbeitervertretung (MAV) am Siegener Diakonie-Klinikum Jung-Stilling. Statt Nachwuchs im Ausland zu rekrutieren, liege hier doch enormes Potenzial, man müsse alles daransetzen, die Menschen zurückzugewinnen. „Junge Kollegen wollen anderen Menschen helfen“, beschreibt Marius Janeczek, OP-Pfleger und stv. MAV-Vorsitzender am Jung-Stilling die Motivation. Aber wenn sie einige Jahre steigender Belastung ausgesetzt waren, „tun sie sich das irgendwann nicht mehr an.“ Die Dokumentation beispielsweise habe derart zugenommen, dass sich examinierte Pflegekräfte kaum noch um Patienten kümmern könnten – das übernähmen oft Angelernte. „Das, was wir eigentlich gelernt haben, bleibt auf der Strecke.“ Dr. Wolfgang Bauch (FDP), Gesundheitspolitiker aus Siegen, sagt: „Was nicht dokumentiert wird, wird auch nicht bezahlt.“ Den ersten Kontakt mit der Unterbesetzung hätten Nachwuchskräfte schon in der Ausbildung – weil zu wenig refinanziertes Personal da sei, um sie anzulernen, sagt Uwe Tron. Auf dem Papier seien Personaluntergrenzen – die es ohnehin nur für pflegesensitive Bereiche gibt – zwar besetzt. Betrachte man die Arbeitsverdichtung und Überlastungsanzeigen, fehlten aber faktisch Stellen. „Der Betrieb funktioniert nur noch, weil wir die Krankheitsausfälle kompensieren“, sagt Sabine Reuter. Da beiße sich die Katze in den Schwanz: Im Krankheitsfall zahle die Geschäftsführung einen Teil des Gehalts an die Mitarbeiter. Das Geld könne man auch sinnvoller verwenden: Für mehr Personal – dann seien die Ausfälle auch nicht so hoch.

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Unterfinanzierung: Das Problem sind nicht die Kliniken, sondern das System, sagen Pflegeexperten. Das deutsche Gesundheitswesen sei auf eine Art und Weise finanziert, „dass man als Krankenhaus im Grunde nur im Personalsektor Kosten sparen kann.“ Überstunden werden in großem Umfang geleistet, aber nicht refinanziert – sie sollen abgefeiert werden, erklärt Marius Janeczek. Der Ausgleich finde aber nie statt – weil immer und überall Personal fehlt. Grundübel dabei sei das sogenannte „DRG-System“. Das steht für „Diagnosebezogene Fallgruppen“ und ist ein Punktesystem, anhand dessen Geld und Personal zugeteilt werden. Im Grunde handelt es sich um Fallpauschalen pro Patient, erläutert Burkhard Irle, Pfleger im Ruhestand und Mitgründer der Siegener Initiative „Wa(h)re Gesundheit“. Einige Leistungen bringen einer Klinik mehr als andere – Hüftoperationen zum Beispiel. Dafür bekommt das Krankenhaus eine bestimmte Summe, die sich auf Punkte verteilt. Und diese Punkte wiederum werden auf Ärzte und Pflege verteilt – wobei „Pflegeleistungen immer ein kleines Stück vom Kuchen bekommen haben“, sagt Irle. Inzwischen sei aber politisch reagiert worden: Die Pflege wurde aus dem DRG-System genommen. „Geld fehlt aber trotzdem“, so Irle.

Kritik an der Extra-Zahlung für manche

Als missratene Geste verstehen nicht wenige Pflegekräfte, dass die Politik mit Bonuszahlung winkt – aber nur für Fachkräfte in Langzeit- und ambulanter Pflege.

„Sie sollte für alle Pflegekräfte gezahlt werden“, findet Sabine Reuter, „das ist das Mindeste. Wir alle sind tagtäglich den Gefahren einer Ansteckung ausgesetzt und mit uns auch unsere Eltern und Kinder.“

Sie hoffe, dass eine angemessene Bezahlung ganz oben auf der politischen Agenda steht, nach der Krise. Und dass die Pflege dann nicht wieder in Vergessenheit gerät.

Fehlende Rückendeckung: Alle Krankenhaus-Geschäftsführer habe man zu Gesprächen eingeladen, sich an Landrat und Superintendent gewandt – von allen sei nichts gekommen. „Pflege hat keine Lobby“, sagt Uwe Tron, der MAV-Vorsitzende. Sie alle wissen, dass ihre Chefs nur innerhalb des Systems agieren können; Geld, das nicht da ist, kann man nicht ausgeben. „Man müsste es aber beim Namen nennen“, wünscht sich Uwe Tron: „Die gesetzlichen Bestimmungen werden erfüllt. Aber für eine vernünftige Pflege sind wir zu dünn besetzt.“ Nach stundenlangem Telefonieren für eine Patientenbefragung des Siegener Seniorenbeirats hätten ihm die Ohren geglüht, erzählt Gesundheitspolitiker Wolfgang Bauch. Man wollte wissen, wie ältere Patienten ihren Krankenhausaufenthalt erlebt hatten. Überall, so der Tenor, gebe es nicht genug Personal. Und die Pflegekräfte seien auch noch die, die den Ärger darüber – unverschuldet – abbekommen.

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Konkurrenzstruktur: Zu alldem komme in Siegen die Konkurrenzsituation der Krankenhäuser zueinander – das Gesundheitswesen ist ein Markt, keine unabhängige Versorgungsstruktur. Gesundheit muss Geld verdienen. Und die Mittel im Gesundheitssystem sind knapp – jedes Haus ist bestrebt, seinen Anteil vom Kuchen zu verteidigen. In Siegen kumuliert das Ganze, weil auf vergleichsweise engem Raum gleich drei große Krankenhäuser sich überschneidende Leistungen anbieten und sich so gegenseitig das Wasser abgraben. „Betten dürfen nicht leer stehen“, sagt Marius Janeczek – dann gibt es nämlich kein Geld – also werden intern Patienten verschoben. Daran ist keine Geschäftsführung schuld, betonen die Pflegekräfte – das System sei das Grundübel: Dass ein Krankenhaus Überschüsse erwirtschaften müsse, dass ein Ort, an dem Menschen gesund gemacht werden sollen, geführt werden müsse wie ein Wirtschaftsbetrieb.

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Die Wünsche

Der Königsweg – zumindest für Siegen – aus Sicht der Pflegeaktivisten ähnelt der Vision der Uni Siegen mit „Medizin neu denken“. Zusammen bilden die drei Krankenhäuser einen Verbund, in dem jeder das tut, was er am besten kann. „Wofür brauchen wir in Siegen drei so riesige Kliniken?“, fragt Burkhard Irle. Spezialisierung, an einem Strang ziehen – „wer es am besten kann, behandelt den Patienten“, sagt Marius Janeczek. Pro Krankenhaus fünf bis sechs Fachabteilungen – so bliebe für alle Häuser am Ende des Tages mehr. Und damit auch für die Pflege.

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Pflegeräte wünscht sich Uwe Tron, fest implementierte Institution, für mehr Kommunikation zwischen Geschäftsführungen und Beschäftigten, „verstehen, was Pflege wirklich bedeutet“, sagt er. „Wir sitzen doch alle in einem Boot. Wir wollen nicht irgendwem in die Suppe spucken, sondern die Pflege in Siegen stärken.“

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Und, endlich: Rückendeckung, Solidarität, Verständnis. „Seit 2013 kämpfen wir als ‚Pflege am Boden‘ bundesweit und in Siegen für eine Verbesserung der Situation in den Krankenhäusern und Pflegeheimen“, sagt Sabine Reuter. „Das ist sieben Jahre her. Spürbar verändert hat sich bis jetzt kaum etwas.“ Die Corona-Krise könnte eine Wende bringen, vielleicht. „Ich schätze die Anerkennung durch die Gesellschaft sehr und finde das Klatschen auf den Balkonen eine nette Geste. Aber traurig ist, dass erst jetzt in Zeiten des Corona, die Pflegekräfte eine solche Aufmerksamkeit erfahren“, sagt sie. „Pflege ist zu jeder Zeit eine Herausforderung, nicht nur in Zeiten einer Pandemie.“

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