Siegen. Kann das Siegener Publikum nicht ins Bruchwerk Theater, kommt das Theater zum Publikum: Mit „Quarantäne“ dem ersten Live-Stream. Auch mit Erfolg?
Es beginnt mit Büchern, groß zu sehen in der ersten Einstellung, ausgebreitet auf einem Tisch. Ein Dialog von Levia Murrenhoff und Werner Hahn ist zu hören; ein Gespräch über Angst, die in Form schwarzer Ketten an jedem Körperglied hängt, jede Bewegung hemmt. Im Hintergrund ertönt alle paar Sekunden ein durchdringender Alarmton: Der Einstieg in die Lesung „Quarantäne. Eine Endzeitdekadenz“, den ersten reinen Live-Stream des Siegener Bruchwerk Theaters.
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Mit dieser Premiere unternimmt das Bruchwerk einen ersten Versuch, sein kulturelles Angebot auch in Corona-Zeiten aufrecht zu erhalten. Mit Erfolg. Bis zu 200 Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgen zeitweise die Übertragung auf Youtube, mehr als 100 bleiben anschließend beim Nachgespräch, zu dem sie via Chat Fragen besteuern können, online.
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Die Lesung im Bruchwerk Theater Siegen
Bruchwerk-Mitgründer Milan Pešl und die Gäste Levia Murrenhof und Werner Hahn sitzen auf der Bühne auf weit auseinander stehenden Sofas. Sie tragen Schutzanzüge, die Sofas sind teilweise mit Folie abgedeckt, vor Milan Pešl ist eine kleine Mauer aus Klopapierrollen aufgetürmt. Für die Lesung in der katastrophenfesten Wohnzimmer-Deko hat das Trio zusammen mit Regisseur David Penndorf Texte quer durch die Literaturgeschichte ausgewählt, auch eigene beigesteuert, die sich mit Angst, Melancholie, Erotik befassen, oft im Angesicht einer Krise oder Bedrohung.
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In der Krise braucht man Freunde
Das kann düster und verstörend wirken, wie im Einstiegstext, geschrieben von Milan Pešl, der die lähmende, einschnürende Wirkung von Angst als intensive körperliche Erfahrung schildert. Das kann aber auch schräg sein, wie der Auszug aus „Frosch rettet Tokyo“ von Haruki Murakami, den Pešl anschließend vorliest: Ein japanischer Bankangestellter kommt nach Hause und wird von einem zwei Meter großen Frosch begrüßt, der mit seiner Hilfe Tokyo vor einem Erdbeben bewahren will.
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Um das zu tun – und 125.000 Menschenleben zu retten – muss der Forsch nämlich mit „Wurm“ kämpfen, einem aggressiven unterirdisch lebenden Vieh mit sehr destruktiven Tendenzen. Den Zuhörer mag das zunächst wundern – aber macht nichts, den Bankangestellten wundert es ja auch. Wesentlich für das Thema des Abends: Der Mann sieht sich einer bedrohlichen Situation gegenüber, mit der wohl niemand gerechnet hätte. Und der Frosch, der als Retter auftritt, appelliert an ihn: „Ich brauche Ihre Tapferkeit. Sie sollen mich als mein Freund mit aller Kraft unterstützen.“ Und: „Sie müssen hinter mir stehen und mich anfeuern.“
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Hygienevorschriften, Lebenslust und die Pestgrube
Werner Hahn trägt seine eigene Textfassung der Geschichte vom „lieben Augustin“ vor. Der soll ja bekanntlich tatsächlich im Wien des 17. Jahrhunderts gelebt haben; zu der Zeit, als die Pest sich ungehemmt ausbreitete, denn „Hygienevorschriften nahm man in dem lebenslustigen Wien nicht sehr ernst“.
Die Sache mit dem Klopapier
Die Bruchwerk-Runde beweist natürlich auch Selbstironie.
„Privat habe ich ein Klopapier-Problem“, sagt Werner Hahn im Publikumsgespräch. „Ich wollte mich nicht an dem Hype beteiligen. Ich wollte einfach nicht mit Klopapier aus einem Laden kommen.“ Tja: Jetzt hat er keins!
Während die einen in dieser Lage mit ihrer demonstrativen Sorglosigkeit kokettieren, andere die Seuche als Strafe Gottes hinnehmen und wieder andere Sündenböcke suchen, zieht Augustin zechend durch die Stadt, schläft im Suff in der Gosse ein, wacht in einer Pestgrube zwischen Leichen auf und komponiert dank sonnigen Gemüts das Galgenhumor-Lied „Oh, Du lieber Augustin“. Passanten hören ihn singen, retten ihn – und sein Song wird zum Hit, der ihm nach der Pestkrise einen angenehmen Lebensunterhalt sichert.
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Sex auf Schienen
Aus Pitigrillis Roman „Kokain“, 2019 als Bühnenfassung im Bruchwerk zu sehen gewesen, liest Levia Murrenhoff ein Kapitel vor, das zum Erotik-Block des Abends gehört. Pitigrilli, 1893 in Turin geboren und 1975 dort gestorben, schaffte es mit mehreren Texten über längere Zeiträume auf den Index.
Wer Levia Murrenhoff zuhört, kann sich die Empörung früherer Generationen leicht vorstellen, die mit dem Anfang der 1920er Jahre veröffentlichten Stoff konfrontiert waren: Ein Paar vollzieht einen völlig enthemmten, sogar gewalttätigen Liebesakt auf Eisenbahnschienen, angefacht und angemacht von der Aussicht auf den in Form eines heranrasenden Zuges nahen Tod, den sie im letzten Moment abwenden – ausufernde Gier nach Leben und Fühlen im Angesicht der drohenden Katastrophe.
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Das Publikumsgespräch
Applaus gibt es im Anschluss virtuell mittels Klatschende-Hände-Symbole im Chat; dazu lobende Kommentare und viel Dank. Eine wichtige Frage, die der Runde aus dem Online-Publikum heraus gestellt wird: Wird es weitere Live-Streams geben? „Wir wissen’s nicht“, sagt Milan Pešl. „Aber wir sind neugierig drauf. Und wir denken nach, wie wir die Zeit, die unser Publikum fernbleiben muss, überbrücken.“
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Dafür arbeite das Team an einer Idee für etwas, „was es im Netz noch nicht gibt – denn wir sind kein Youtube-Channel, wird sind ein Theater“. Gerade das ist auch der Grund, wieso die Lesung nicht als Video online bleibt, wieso es sie nur als einmaliges Live-Erlebnis gab. Was Bruchwerker Milan Pešl aber klar macht: Irgendetwas soll kommen. „Einfach zumachen und nach Hause gehen ist keine Option.“
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