Siegen. Das Tollmut Theater begibt sich im Siegener Bruchwerk an eine Tschechow-Inszenierung. „Die Möwe“ überzeugt dabei auf ganzer Linie.

Viel passiert nicht im Stück „Die Möwe“, das Anton Tschechow vor mehr als 120 Jahren schrieb, in dem es um Ruhm, Liebe und am Ende auch den Tod geht und das er, russischer Humor kann seltsame Blüten treiben, als Komödie bezeichnete. Dass die Inszenierung des Tollmut Theaters im Bruchwerk dennoch funktioniert und über eine Spieldauer von fast zweieinhalb Stunden trägt, liegt an intelligenten Schachzügen der Regie und einem neunköpfigen Ensemble, das sich mit Haut und Haaren in die Rollen verbeißt und sich die Seele aus dem Leib spielt.

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Liebeswirren und Enttäuschungen

Arkadina (Andrea Küsel), eine Schauspielerin mit allen Attitüden einer alternden Diva, die sich vor nichts mehr fürchtet als vor ihrem Älterwerden, besucht mit ihrem aktuellen Lover, dem Erfolgsschriftsteller Trigorin (David Becker), das Landgut ihrer Familie. Doch statt gepflegter sommerlicher Langeweile geraten die Beiden samt ihrer Freunde in die Theaterversuche ihres Sohnes Kostja (Andrés Garcia Diaz) und des Nachbarsmädchens Nina (Charline Kindervater). Und die gehen ziemlich in die Hose. Mama: „Es hat etwas Dekadentes.“

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Kostja ist gekränkt – „Mein Stück ist durchgefallen!“ – und bringt Nina eine tote Möwe. Doch die ist inzwischen in Trigorin verliebt. Dass Mascha (Antonia Schellert), die Tochter der Gutsverwalterin Polina (Susanne Gerhards), in Kostja verliebt ist, interessiert diesen nicht. Polina wiederum sieht in dem Lebemann Dorn (Pierre Stoltenfeldt) deutlich mehr als nur einen charismatischen Arzt.

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Alle leiden – irgendwie

Jahre danach hat sich einiges entwickelt und verändert: Trigorin hat ein Verhältnis mit Nina, das Arkadina mit allen Waffen einer reifen Liebhaberin zu unterbinden weiß. Mascha ist inzwischen verheiratet. Mit Lehrer Semjon (Peter N. Ewert), der laut ihrer Aussage „nicht sehr gescheit ist“. Dorn, der Arzt, kränkelt inzwischen selbst, so dass Polina immer noch alleine ist. Kostja aber ist zu einem erfolgreichen Schriftsteller geworden, führt jedoch in Wirklichkeit ein Leben mit dem krankhaften Zwang, immer schreiben zu müssen, was dann vom Leser als nett und talentiert deklariert wird. Alle leiden und am Ende steht ein Schuss. Der zweite Versuch Kostjas, sich das Leben zu nehmen, beendet auch das Theaterstück.

Die nächsten Termine

Weitere Aufführungen: 21.,22.,24.,25.,26.,27.,30. und 31. Januar im Bruchwerk Theater, Siegbergstraße 1.

Inszenierung erfordert reichlich Kies

Zu den intelligenten Schachzügen gehört die Idee, das Bruchwerk Theater in den Sommergarten zu verwandeln, in dem Tschechows Handlung einst gespielt hat. Viel Kies war nötig, um eine große weiße Spielfläche und damit einen hellen Kontrast zum meist düsteren Geschehen zu schaffen. So entstehen schöne Bilder, garniert von vorrevolutionärer Dekadenz, und auch akustische Effekte. Denn jeder Schritt über die Kiesfläche, ob von den Zuschauern auf dem Weg zu ihren Plätzen oder von den Akteuren, erzeugt charakteristisches Knirschen wie in einem Freiluft-Biergarten.

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Noch wichtiger ist, die Möwe (Nika Zh) lebendig werden zu lassen und zu vermenschlichen. Schon lange bevor sie ins Rampenlicht tritt, liegt sie unbeweglich in einem Leinentuch über dem Kies, befreit sich dann daraus und begleitet tänzerisch das dramatische Geschehen. Fast noch mehr muss man sie bewundern, wenn sie sich nicht bewegt. So liegt sie minutenlang direkt vor dem Publikum im Kies, ohne dass man auch nur eine Atembewegung wahrnimmt.

Mutige Wahl und voller Erfolg

Das Tollmut Theater hätte es sich leichter machen können als mit Tschechows „Die Möwe“. Dass es den Mut hat, ein solch schwieriges Stück zu spielen und noch dazu so überzeugend, zeigt einmal mehr, welch lebendige Theaterlandschaft die Region zu bieten hat. Das Publikum dankt es mit stehenden Ovationen, die natürlich auch dem Bruchwerk-Team und Regisseur David Penndorf gelten.

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