Wetter/Hagen. Am 2. Prozesstag will das Schwurgericht klären, wieso das einzige Kind einer Frau in Wetter starb und wie das Umfeld die Beschuldigte beschreibt.

Was muss im Leben einer Mutter passiert sein, ehe diese ihr eigenes, einziges und scheinbar geliebtes Kind tötet? Welche Persönlichkeit steckt in einer solchen Frau? Welche Anzeichen hat ihr Umfeld vor der vermeintlichen Tat wahrgenommen? Diese drei Fragen stehen am zweiten Prozess-Tag im Mittelpunkt eines Verfahrens vor dem Hagener Schwurgericht. Auf der Anklagebank sitzt eine 43-jährige Wetteranerin, die Anfang Februar 2023 ihren Sohn erst von hinten mit einem schweren Gegenstand geschlagen und dann den Jungen in die Badewanne gelegt haben soll, wo der Neunjährige laut Obduktionsbericht ertrunken ist.

Mehrere Stunden muss sich die weiter schweigende Beschuldigte Schilderungen von insgesamt zwölf Zeugen anhören, darunter ihre Mutter, Freundinnen, Arbeitskolleginnen, Nachbarin und Polizisten. Während dieser teils emotionalen Vernehmungen erfährt die Zuhörerschaft auch viel über das getötete Kind, das offenbar bis zum verhängnisvollen Tag ein fröhliches Leben in der Harkortstadt führen konnte. Keine Probleme in der Schule, recht viele Freunde, Hobbys wie Fußball spielen, von der Mutter gut behütet, immer wieder auch mit seinem Vater unterwegs – das sind die Kennzeichen bis zur Trennung seiner nicht verheirateten Eltern einige Tage vor dem Jahresende 2022.

Ein normaler, fröhlicher Junge

Der Junge habe ihr, so erzählt es nun eine Betreuerin aus dem Offenen Ganztag im Zeugenstand, von der gescheiterten Beziehung berichtet und gesagt, dass er deswegen ein bisschen traurig sei. „Aber jetzt streiten sie nicht mehr so viel.“ Die Sozialarbeiterin habe auch keine Auffälligkeiten bei dem Neunjährigen festgestellt, der recht erwachsen wirken konnte und weitere Fragen zur Trennung abgeblockt habe.

Nach wie vor kommt diese als Motiv infrage. Einige Tage vor dem Tod des Jungen habe sich dessen Mutter Hilfe suchend an einen Arbeitskollegen von ihr gewendet, wie dieser Zeuge vorträgt. Er sei als „Ersatz-Opa“ für das Kind vorgesehen gewesen und wollte die Frau bei einem Treffen angesichts der Trennung aufbauen. Beruflich könne er über die Angeklagte, die als gelernte Heilerziehungspflegerin für zwei bekannte Arbeitgeber in Wetter aktiv war, viel Gutes berichten.

Zweimal benutzt der 60-Jährige das Wort „zwiespältig“: Einmal im Zusammenhang mit der bemerkenswerten und liebevollen Hinwendung der Mutter zu ihrem Sohn. „Umso unbegreiflicher ist das, was geschehen ist“, so der Zeuge. Zudem habe schon seit längerer Zeit eine Trennung der Eltern im Raum gestanden. Die Wetteranerin habe dies einerseits als richtig eingestuft und sich andererseits besorgt geäußert, das nicht richtig verkraften zu können. Wobei die Frau ihrem Arbeitskollegen noch am 31. Januar Handyfotos von ihrem Sohn geschickt habe und nach der Klärung von Unterhaltszahlungen des Vaters fast schon glücklich gewirkt habe. Kurz zuvor habe er sie noch an ihrem „seelischen Tiefpunkt“ als stark verunsichert erlebt.

Starrer Blick und kaum Regungen

Als dieser Zeuge, der die Wetteranerin auch in der Justizvollzugsanstalt besuchte habe („Da wirkte sie voller tragischer Trauer und so, als ob sie selbst nicht begreifen könnte, was passiert ist“), im Landgericht auftritt, huscht ein Lächeln über das Gesicht der Angeklagten. Die starrt sonst mit herunter hängenden Mundwinkeln fast durchgehend vor sich hin, wirkt blass und müde.

Ohne Regung hört sie auch ihrer eigenen Mutter zu. Das zerrüttete Verhältnis zu der heute 65-Jährigen thematisieren später auch die Freundinnen der Angeklagten. Seit 17 Jahren haben die Zwei keinen Kontakt zueinander, die Oma habe ihren verstorbenen Enkel nie kennengelernt. Die Angeklagte habe ihrer allein erziehenden Mutter viele Vorhaltungen gemacht. „In ihren Augen bin ich der Buhmann für alles“, sagt die Zeugin und wehrt sich gegen verschiedene Vorwürfe. Etwa als Alkoholikerin bezeichnet zu werden. „Wenn man sich am Wochenende einen trinkt, ist man dann schon Vollalkoholiker?“

Die Freundinnen der Beschuldigten wiederum sagen dann aus, dass die Angeklagte ihre eigene Kindheit als traurig und „ohne Liebe“ bezeichnet habe. Daher auch der Ansatz, als vermeintliche Über-Mutter auch mal zu viel für den eigenen Sohn gewollt zu haben. „Sie hat sich schon sehr über ihren Jungen definiert.“ Auch als Erwachsene habe die Wetteranerin sonderbar gewirkt. Das liege etwa an depressiven Stimmungsschwankungen, Höhen und Tiefen seien oft vorgekommen. „Sie hat früher auch Gras geraucht und sich gelegentlich geritzt“, sagt eine 45-Jährige und erzählt, dass sie Verletzungsspuren am Unterarm ihrer Jugendfreundin gesehen habe.

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Emotional erläutert eine andere Freundin, dass aus ihrer Sicht trotz der sich anbahnenden Trennung der Eltern (Tenor: der Kindsvater mache bei der Erziehung manches falsch) bei der Beschuldigten alles in Ordnung schien. Sie habe ihren fast gleichaltrigen Sohn auch in die Obhut der Angeklagten gegeben. „Und das würde man bei einer bösen Vorahnung ja nicht machen“, sagt sie. Unter Tränen äußert sie ihre Vermutung zu der „nicht nachvollziehbaren Tat: Sie wollte ihr Leben beenden und ihr Kind mitnehmen und davor bewahren, damit es nicht allein auf der Welt bleibt.“

Am Ende des zweiten Prozess-Tages zitiert die Richterin aus einem Formular. Offenbar wollte die Angeklagte im November 2022 eine Mutter-Kind-Kur beantragen. Sie leide seit Monaten unter verschiedenen Problemen wie Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen. Mit ihrem Sohn, das kreuzte sie an, sei sie aber voll und ganz zufrieden.