Wetter. Eine Grabtafel auf dem alten Friedhof Bornstraße erinnerte an Zwangsarbeiter, die in Wetter ihr Leben ließen. Seit Sommer ist sie verschwunden.
Turnen, hüpfen, wippen – dafür ist der Alte Friedhof an der Bornstraße bei wetterschen Familien seit seiner Umgestaltung im Sommer 2019 bekannt und beliebt. Doch bereits zuvor rodelten dort wintertags Generationen freudestrahlend einen kleinen Abhang hinab, vorbei am Grabstein der Familie Blank zur Rechten und einigen hohen Koniferen zur Linken, um dann bei der Ruhestätte von Familie Gravestein anzukommen. Wer schaute schon unter die Koniferenzweige, wenn er mit dem Schlitten den Hang wieder hinaufstapfte? Unter denen stand eine hölzerne Grabtafel, die vorne mit fünf fremden Namen und ihren Geburts- und Sterbedaten versehen war. Wer dann sich den Weg durch Gestrüpp und Unrat bahnte (der geschützte Ort wurde als heimliches Urinal benutzt), fand auf der Rückseite fünf weitere Inschriften.
Gestorben im April 1945
Was suchten diese zehn Männer 1945 in Wetter, um dort im April ihr Leben zu lassen? Bereits kurz nach dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 benötigte die deutsche Rüstungsindustrie zahlreiche Arbeitskräfte. Einheimische, nunmehr zur Front verschickt, sollten durch ausländische zivile Arbeitskräfte und Kriegsgefangene ersetzt werden, so auch in Wetter. Ein Schreiben des Reichsarbeitsministeriums vom 9. Oktober 1939 informierte erstmals die Stadt, Kriegsgefangene in der Land- und Forstwirtschaft einzusetzen; der Ennepe-Ruhr-Kreis rechnete mit ersten polnischen Kriegsgefangenen bereits am 13. November 1939 und traf rasche Vorbereitungen zur Unterbringung und Bewachung. Drei Monate nach Kriegsbeginn waren im deutschen Reich eine Viertelmillion polnische Kriegsgefangene und etwa 30.000 polnische zivile Arbeitskräfte, vor allem Frauen, eingesetzt.
Unterbringung der Arbeiter
Wurden in Wetter kriegsgefangene Arbeiter anfangs in beschlagnahmten Lokalitäten untergebracht (Beispiel „Lager Bauer‘scher Saal“ in der Königstraße, „Lager Düllmann’scher Saal“ im Schöntal), so später in errichteten Barackenlagern (wie in Oberwengern). Firmen wie die Demag, die Gussstahlwerke Carl Bönnhoff und Ludwig Bönnhoff, das Stahlwerk Mark A.G., die Gesenkschmiede und Feilenfabrik Carl und Walter Prinz, die Stahlwerke Harkort-Eicken Hagen mit Sitz in Wetter, das Bauunternehmen Geis und auch die Stadt Wetter forderten Kriegsgefangene an, ebenso die Färberei und Reinigung Lindackers. Unternehmen und Stadt beteiligten sich an den Lagerkosten, Kleinunternehmen schrieben Rechnungen für Nahrungsmittel, Wäschereidienste, Bürobedarf (Lagerstempel), Verdunklungspapiere, Medikamente und mehr.
Polen, Ukrainer, Italiener
Vor diesem Hintergrund kamen auch jene zehn Männer in die Kleinstadt. Die sieben Polen, alle aus der Gegend um Warschau, katholisch und als „Hilfsarbeiter“ gelistet, waren 1945 in einem Lager(Haus) in der Kaiserstraße 56 untergebracht. Dort waren elf Jahre zuvor, unweit der Pfarrkirche St. Peter und Paul, ein katholischer Bürgerverein mit Vereinshaus sowie ein Kastellan und eine Modistin gemeldet gewesen, ab 1938 bis in die 1950er Jahre der Gastwirt Wilhelm Dröge, 1941/42 zusätzlich mit einem „Büffetfräulein“. Die anderen drei Männer wurden anderen Stätten zugewiesen: Der Russe, der ein Ukrainer war, als „Hilfsarbeiter“ dem Lager Düllmann’scher Saal in der Schöntaler Straße 40, der Russe aus Stalingrad als „Lageraufseher“ dem Lager der Firmen Bönnhoff an der Wittener Straße 2 und der katholische Arzt aus Italien dem großen Lager der Demag in Oberwengern.
Schwerer Beschuss
In den letzten Kriegstagen geriet Wetter unter schweren amerikanischen Artilleriebeschuss, bevor es am 13. April 1945 aufgab. Neben dem Krankenhaus wurden auch die Lager von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitenden getroffen.
Die zehn Namen
Die Namen der Zwangsarbeiter, die vorne auf der hölzernen Grabtafel stehen: Franziszek Zielinski, geboren am 3. November 1891, verstorben am 10. April 1945; Zygmund Kornatowski, geboren am 24. Januar 1926, verstorben am 12. April 1945; Felix Szmidt, geboren am 17. Juni 1907, verstorben am 12. April 1945; Josef Pietruszka, geboren am 19. März 1896, verstorben am 12. April 1945; Kazimierz Legau, geboren am 4. April 1904, verstorben am 12. April 1945. Dazu wurd die Nationalität „Pole“ beigefügt.
Auf der Rückseite stehen diese Namen: Pawel Bareja, geboren am 23. Januar 1904, verstorben am 12. April 1945; Josef Zdziarski, geboren am 22. Februar 1913, verstorben am 15. April 1945; Petrow Chubrinski, geboren am 18. Juni 1918, verstorben am 16. April 1945; Victor Dubin, geboren am 31. Januar 1896, verstorben am 13. April 1945; Dott. Salvatore Calò, geboren am 22. Juli 1913, verstorben am 12. April 1945. Dazu „Pole“, „Russe“ und aktuell „Leverano“ (eine süditalienische Gemeinde) zugefügt.
Fünf der auf der Holztafel verzeichneten Polen kamen mitternachts am 12. April 1945 beim Beschuss der Kaiserstraße 56 ums Leben, zwei Tage vorher der dort gemeldete 54-Jährige an „Herzschwäche“, drei Tage später der 32-Jährige durch „Schussverletzung im Rücken“. Auch der italienische Arzt kam am 12. April 1945 bei Hilfeleistungen im Lager Düllmann’scher Saal durch Granatsplitter zu Tode. Der 27-jährige Ukrainer starb drei Tage nach der Kapitulation Wetters am 16. April frühmorgens vor der erlaubten Ausgangszeit an Schussverletzungen, die ihm „wegen Plünderns“ beigebracht worden waren. Allerdings hatte der kommissarische Bürgermeister Lorek zwei Tage zuvor die Bürger per Aufruf informiert, die Verpflegung „der ausländischen Arbeiter“ mitzutragen, auch wenn Lebensmittel begrenzt waren. Und auch der russische Lageraufseher im Lager Wittener Straße 2 überlebte die Niederlage der Stadt nur um Stunden: An ihm nahmen Landsleute blutige Rache.
Grabtafel verschwunden
Die Stadt Wetter bestattete die zehn Toten in einem acht Quadratmeter großen Sammelgrab auf dem Friedhof Bornstraße, dessen Außerbenutzungssetzung vom 2. August 1941 am 14. Juni 1945 aufgehoben worden war. Nach dem Gräbergesetz sind Gräber aller Opfer von Krieg und Gewalt dauerhaft zu pflegen; die Kosten übernimmt der Bund. Die gesetzliche Bestimmung für die Ruhestätte an der Bornstraße wurde in der Gräberliste des Regierungsbezirks Arnsberg dokumentiert.
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Seit Sommer 2021 aber stehen die grünen Koniferen verwaist, denn plötzlich verschwand die Grabtafel mit den Namen der Umgekommenen, die dann von der Autorin beim Stadtbetrieb geortet wurde.
Gastautorin Thea Struchtemeier wuchs in Wetter auf und arbeitet am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Uni im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets.