Herdecke. Neue Stromleitung von Amprion: Am 10. November will das Bundesverwaltungsgericht Leipzig die Klage aus Herdecke verhandeln. Die Hintergründe.
Nach zwei vergeblichen Anläufen befasst sich das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am Dienstag mit der Herdecker Klage zum Bau der Amprion-Trasse. Auf dem Prüfstand steht der Beschluss der Bezirksregierung Arnsberg, die im Juli 2018 den Beschluss zur 380-Kilovolt-Stromleitung von Dortmund-Kruckel über Herdecke nach Hagen-Garenfeld genehmigte.
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Die Hoffnungen vieler Herdecker ruhen auf Philipp Heinz. Der Berliner Rechtsanwalt vertritt die klagenden Bürger und kann einige Erfolge in seinem Spezialgebiet vorweisen. Seine Einschätzung vor der mündlichen Verhandlung jetzt am 10. November: „Die Erwartungen der Betroffenen sind groß, die Spannung hoch.“ Die Terminvorbereitung laufe bereits seit einigen Wochen auf Hochtouren, Schriftsätze gehen demnach hin und her. „Ich habe im Vorfeld der Verhandlung mit mehreren Schreiben die Position der Kläger und damit auch der hinter ihnen stehenden Prozessgemeinschaft nochmals verdeutlicht bzw. bin noch tiefer in Details gegangen“, sagt Philipp Heinz.
Argumente der Gegenseite erwidert
In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Lorenz Jarass (Gutachter und fachlicher Beistand der Kläger-Seite) habe Heinz Argumente von Amprion und der Bezirksregierung erwidert. Anfang September wollte zudem das Gericht von allen Beteiligten wissen, was es mit dem vermeintlich fehlerhaften Umgang mit dem Schutz des Wohnumfeldes auf sich habe. „Die gerichtliche Nachfrage zeigt aus unserer Sicht, dass sich die Richter intensiv mit diesem aus Sicht der Betroffenen so wichtigen Belang befassen. Das freut uns natürlich“, meint der Fachanwalt.
Konkret gehe es demnach darum, dass die Bezirksregierung und Amprion eine Beeinträchtigung des Wohnumfeldes ab einer Entfernung von nur 200 Metern von der Trasse gar nicht mehr berücksichtigt haben. Angesichts von teils bis zu 87 Meter hohen Masten und der örtlichen Geografie mit teils terrassenförmig ansteigenden Wohngebieten (Schraberg und Semberg) hält die Kläger-Seite diese Pauschalbegrenzung der Behörde für nicht tragfähig. „Um die tatsächlichen Auswirkungen des Vorhabens aufzuzeigen, haben wir dem Gericht auch umfangreiche Fotodokumentationen zur Verfügung gestellt“, so Heinz.
Arbeiten an Stromtrasse in Herdecke laufen auf Hochtouren
Weitere aktuell besonders stark diskutierte Themen seien die Fragen, warum das Koepchenwerk zukünftig nur noch nach Dortmund-Kruckel angebunden werden soll (bisher nach Garenfeld). Denn das ziehe bis zu sechs Freileitungsseile auf zwei weiteren Quertraversen in besonders stark betroffenen Wohnbebauung nach sich. Die Kläger sehen hierfür keine ausreichende Abwägungsgrundlage in dem Planfeststellungsvorgang. Zudem gehe es darum, ob die Bezirksregierung und Amprion die Betrachtung kompakterer Mastbauweisen (sowohl in der Bestandstrasse als auch bei der Autobahn-Alternative) komplett unterlassen durften. Heinz: „Wir meinen, dass das jedenfalls hätte geprüft werden müssen.“
Bei Bürgern steigt Zuversicht
Mit verhaltenem Optimismus fahren Vertreter der Prozessgemeinschaft „Herdecke unter Strom“, 2016 eigens für die juristische Auseinandersetzung gegründet, zum Verfahren nach Leipzig. „In den letzten Tagen während der Vorbereitung ist bei mir angesichts neuer Erkenntnisse aber die Hoffnung auf ein Urteil zu unseren Gunsten gestiegen“, sagt Lars Strodmeyer.
Vor einem halben Jahr sah er die Herdecker Protestierenden noch als klassischen „Underdog“. Da laut Strodmeyer, der mit Gisela sowie Wolfgang Heuer die Prozessgemeinschaft vertritt und darüber die klagenden Bürger finanziell unterstützt, aber Fehler bei der Trassen-Planung passiert sind, gehe es nun darum, ob das Gericht das auch so sehe. Das Trio jedenfalls sei dankbar, dass zwecks Einreichung der Klage mehr als 150 Spenden aus den Reihen der Bürgerschaft kamen. „Es gab einmal sogar eine Einzahlung von 5000 Euro. Auch deshalb konnten wir den Klägern unsere Unterstützung zusichern, wobei wir das finanzielle Risiko tragen.“ Es sei jedenfalls nun an der Zeit, dass trotz der Corona-Pandemie „endlich eine Entscheidung fällt“.
„Devotes Verhalten“ und Kritik
Der Vorstand der Bürgerinitiative (BI) Semberg, die eng mit der Prozessgemeinschaft zusammenarbeitet, hat nach Angaben von Gudrun Graw-Seelke „hohe“ Erwartungen an das Bundesverwaltungsgericht. „Das devote Verhalten gegenüber der Antragstellerin Amprion, welches die Bezirksregierung Arnsberg und weitere beteiligte Behörden in dieser Sache an den Tag legten, hat mich den Glauben an einen seriösen Verfahrensablauf verlieren lassen.“ Sie kritisiert: Grundstückseigner derart unter Druck zu setzen und die Trasse einfach zu bauen – „das erzeugt nicht nur bei mir große Empörung“ sondern hoffentlich auch beim Gericht. Häuser zu überspannen, Menschen einen Masten in oder vor den Garten zu stellen, was ist mit gesetzlich festgelegten Abstandsregelungen? Graw-Seelke: „Ich hoffe deshalb, dass sich das Gericht eine Entscheidung nicht leicht macht, damit es ein ,zweites Herdecke’ in Deutschland dann nicht noch einmal gibt.“
BI-Vorstandskollege Detlef Plett pflichtet bei: „Man versucht ja, dieses Gefühl der zunehmenden Ohnmacht zurückzudrängen, das sich in den vergangenen fünf Jahren unseres Widerstands gegen den Trassenneubau über unser Herdecker Stadtgebiet entwickelt hat.“ Trotz der Begründung Energiewende und der weit fortgeschrittenen Baumaßnahmen bleiben für Plett „erhebliche Zweifel an der Notwendigkeit des Trassenneubaus. Ich vertraue der Unabhängigkeit der Justiz und besonders Anwalt Heinz.“
Bezirksregierung optimistisch
Auch die Arnsberger Bezirksregierung, die den Bau der 380-Kilovolt-Leitung durch Herdecke als zuständige Behörde genehmigte, sehe „naturgemäß“ dem Gerichts-Termin am 10. November in Leipzig „gespannt entgegen. Immerhin geht es um ein bedeutendes Infrastrukturvorhaben im Rahmen der Energiewende, das angesichts der Auswirkungen des Leitungsbaus in den betroffenen Städten großen Widerstand hervorgerufen hat“, sagt Verfahrensleiter Werner Isermann.
Herdecker gegen Amprion
Vertreter der Behörde seien aber überzeugt, dass „wir alle Belange ergebnisoffen und sachgerecht untereinander und gegeneinander abgewogen und in dem Planfeststellungsbeschluss ausreichend begründet haben. Daher glauben wir, dass dieser Bestand haben wird.“
Auf die Frage nach vergleichbaren Prozessen in den letzten Jahren verweist Isermann auf andere Stromleitungsvorhaben dieser Größenordnung, die vor dem Bundesverwaltungsgericht landeten. Einige Beschlüsse aus Nordrhein-Westfalen haben Leipziger Richter demnach ohne Beanstandung bestätigt, andere wurden für Leitungen in Krefeld (Fellerhöfe) oder Köln (Hürth) im Hinblick auf einzelne Belange für rechtswidrig erklärt und konnten durch ein ergänzendes Verfahren geheilt werden. „Die Bezirksregierung Arnsberg war bislang mit allen beklagten Leitungsbauvorhaben vor den Gerichten nicht unterlegen“, so der erfahrene Dezernent.
Damit zur gesamten Stromtrasse Dortmund-Dauersberg (Rheinland-Pfalz), zumal auch der hiesige Abschnitt Teil des „Energieleitungsausbaugesetzes“ zum beschleunigten Ausbau der Höchstspannungsnetze ist. Das Herdecker Urteil aus Leipzig dürfte aber auch für Hohenlimburger von großer Bedeutung sein, dort werde die Bezirksregierung in den nächsten Monaten Antragsunterlagen zum Trassen-Bau vorlegen.
Auch andernorts wird schon gebaut
Für das nächste Teilstück bis Attendorn lagen Pläne bereits aus (Mitte 2021 wohl dazugehöriger Erörterungstermin). Das Verfahren zum nächsten Abschnitt bis zur Landesgrenze in Siegen sei weit fortgeschritten und beinhalte Änderungen zum Mastbau. Einige Meter weiter (Mudersbach) werde derzeit ebenso gebaut wie auf der Strecke bis zum Umspannwerk Dauersberg.
Grüne rechnen mit grünem Licht für Leitungsbau
Fraktionsvorsitzender Andreas Disselnkötteren erläutert die Sichtweise der Grünen. „Es ist in Land und Bund unbestritten, dass wir den zügigen Ausbau der Stromleitungen für einen erfolgreichen Klimaschutz brauchen. Dazu gehört auch der Leitungsbau in der bestehenden Stromtrasse in Herdecke“, sagt er auf Anfrage.
Nach einem demokratischen Beteiligungsverfahren und der Abwägung möglicher Alternativen und Einwendungen wurde der Ausbau von der Bezirksregierung genehmigt. „Auch die Herdecker Grünen haben lange nach einer Alternativlösung gesucht und mussten einsehen, dass es keine andere und bessere Lösung als die Nutzung der bestehenden Trasse gibt. Wird dieser Beschluss umgesetzt, werden am Ende weniger Masten in Herdecke stehen. Und auch aus der Sicht der Naturschutzverbände wäre ein umweltverträglicher Weg des Leitungsbaus gefunden“, so Disselnkötter.
Die Herdecker Grünen respektieren diese Entscheidung der Bezirksregierung und gehen davon aus, dass das Bundesverwaltungsgericht Leipzig diese Entscheidung grundsätzlich bestätigen wird.
„Natürlich haben die Gerichtsentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts ganz erhebliche Bedeutung für weitere andere Vorhaben“, so Isermann. „Die Entscheidungen der letzten Jahre haben großen Einfluss auf die Gestaltung der Antragsunterlagen der Vorhabenträger, aber auch auf die Prüfung und Abwägung der Planfeststellungsbehörden generell.
Amprion verweist auf Gesetze
Auch wenn sich das juristische Verfahren in Leipzig um den Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung Arnsberg dreht, steht doch das Vorhaben von Amprion im Mittelpunkt. Das Unternehmen mit Sitz in Dortmund ist einer von vier Übertragungsnetzbetreibern in Deutschland und entsprechend erfahren, was Klagen gegen seine Projekte anbetrifft.
Vor dem Termin am Dienstag und der Anhörung nach den Herdecker Einsprüchen sagt Mariella Raulf von der Amprion-Unternehmenskommunikation: „An unserem Standpunkt bezüglich der anstehenden mündlichen Verhandlung hat sich nichts geändert. Amprion ist zuversichtlich, dass der Planfeststellungsbeschluss vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt wird.“
Bau läuft seit April 2019
Vergleiche mit anderen Gerichtsverfahren seien kaum möglich. „Unsere Projekte können nicht pauschal miteinander verglichen werden. In der Vergangenheit wurden behördliche Planfeststellungsbeschlüsse teilweise bestätigt, teilweise wurden auf Grund des Urteils sogenannte ergänzende Verfahren bei der zuständigen Behörde erforderlich“, meint Mariella Raulf.
Der Netzbetreiber habe im April 2019 nach der Genehmigung durch die Bezirksregierung mit dem Leitungsbau zwischen den Umspannanlagen Kruckel und Garenfeld begonnen. Viel sei bereits fertig. Amprion sei laut Energiewirtschaftsgesetz verpflichtet, ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz diskriminierungsfrei zu betreiben, warten und bedarfsgerecht zu optimieren, zu verstärken und auszubauen (soweit wirtschaftlich zumutbar), heißt es.
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Warum hat das Unternehmen nicht das Leipziger Urteil abgewartet und den Bau in Herdecke vorangetrieben? „Die Klagen führten nicht zu einer Einschränkung des Baurechts aus dem erteilten Planfeststellungsbeschluss. Mit Blick auf die gesetzliche Verpflichtung hat Amprion entsprechend mit dem Bau begonnen“, so Raulf. Amprion handele ausschließlich im Rahmen gesetzlicher Regelungen und von der Rechtsprechung geprägten Handlungsgrundsätzen. All das im Einklang mit den Genehmigungen.