Hagen. Wir nennen ihn mal Willi. Er sagt nämlich, es würde knallen, wenn wir seinen echten Vornamen nennen. Willi sagt, ich solle mich mal setzen. Es gäbe was zu lernen. Darüber, wie das hier läuft, auf dem Bahnhofsvorplatz. Willi ist der Unterschied zwischen mal etwas trinken und saufen. Nur er sieht das nicht so.
„Die da“, ist Willis Bezeichnung für die, die angeblich eine echte Plage für das Bahnhofsviertel sind. „Die da“ sind auch eine Trinkergruppe. Nur mit anderen Nationalitäten. Da wird im Klassenkampf der Trinker hier fein unterschieden. Die Wahrheit ist, dass die Truppe um Willi, „die Da“ und noch ein weiteres Grüppchen, dass sich vor dem Sozialen Rathaus breit macht, alle Teil desselben Problems sind. Ein trauriger Anblick morgens um 10 Uhr im Bahnhofsviertel, wo diese Jungs sich schon ihr zweites oder drittes Billigbier vom Kiosk geholt haben.
Die Hagen-Agentur hat sich die Verschönerung des Bahnhofsviertels auf die Fahnen geschrieben. Es gab Projekte mit Berufsschulen. Quartiersspaziergänge. Man diskutierte über Anstriche. Über Leerstands-Management. Wie wichtig Veränderungen jedweder Art hier wären, zeigt unsere Bestandsaufnahme. Das Viertel schreckt ab. Dabei sollte es einladend sein.
Willi hat genug geredet. Nach dem dritten Satz drehte er sich inhaltlich schon im Kreis. Durch seine Dornkaat-Bier-Fahne drangen viele Kraftausdrücke. Wir haben uns Tschüss gesagt. Und nicht bis bald.
Rund 30.000 Menschen nutzen täglich den Hauptbahnhof. Viele betreten den Boden unserer Stadt hier das erste Mal. Wer die Bahnhofshalle verlässt, wird in die Tristesse entlassen. Am Busterminal kann man interessante Sozial-Studien durchführen. Man muss nur schön aufpassen, dass man nicht Opfer einer Tauben-Kot-Bombe wird. Nur an wenigen Stellen blitzt der graue Fußboden unter den klebrigen Hinterlassenschaften hindurch.
Nachtclubs, Telecafés, Wettbüros
Auf der anderen Straßenseite brummt das Viertel längst. Mieter der Geschäftszeile haben sich schon öfter über die Situation vor ihren Türen beschwert. Samstagmorgen liegt hier schon mal Erbrochenes. Oder Urin rinnt über die Stufen. Oder Menschen schlafen.
Wer siedelt sich hier an? Neben einem alten Tabledance-Lokal hat zuletzt ein afrikanischer Club aufgemacht. Gleich gegenüber von Pornokino Nummer eins. Es gibt um die nächsten zwei Ecken noch zwei weitere. Für Unentschlossene.
Telecafés haben hier im Viertel Hochkonjunktur. Es gibt kaum einen Winkel auf der Welt, der aus einer der gläsernen Kabinen nicht zu erreichen ist. Und wer nicht telefonieren muss, geht wetten. Wettbüros scheinen hier auch gut zu gehen. Auf was wird der Mann, der einen Laden gerade mit Trainingsanzug und übergelter Frisur betritt, gleich wetten? Pferdchen? Fußball? Cricket? Soll ja alles möglich sein.
Wer siedelt sich hier an?
Eine Ecke weiter an der Hindenburgstraße werden wuchtige Gewerbeflächen angepriesen. Zwischen 250 und 3500 Quadratmetern ist alles mietbar. Schon sehr lange. Die Frage ist, wer zwischen Leerständen, grauer Tristesse und Hardcore-Erotik-Buden ein Büro für was auch immer aufmacht?
Eine kleine Reisegruppe hat sich mal eben etwas zu essen bei einem Billigbäcker geholt. Die Jungs kommen aus Siegen. „Absolut runtergekommen“, sagt Tim. Es sehe hier aus, wie in einer grauen Arbeiterstadt. Er sei froh, dass er nicht hier bleiben müsse. Der Bursche ist noch Schüler. Seine Kumpels nicken während seiner Ausführungen.
Top-Thema im Quartier: Toilettenanlagen. Die Bahnhofstoilette ist sehr sauber. Ein Euro wird für die Benutzung fällig. Für viele Reisende erschwinglich. Für viele Trinker eine Hürde. Es gibt noch öffentliche Toiletten im Sozialen Rathaus. Blaues Licht flackert hier von der Decke. Anti-Junkie-Light heißt das in vielen Großstädten. Drogensüchtige finden so ihre Venen zum Einstich nicht.
60 Minuten sind rum. Man geht mit einer Feststellung und einer Frage: Es muss sich was tun. Nur wie?