Hagen. Und plötzlich herrscht gespenstische Stille. Seit dem der erste Abschnitt der Bahnhofshinterfahrung den Verkehr umlenkt und nicht mehr rund 28.600 Autos täglich über die Wehringhauser Straße rollen, wirkt das Revier rund um den Bodelschwingh-Platz wie eine kleine Geisterstadt.

Ein kleiner Junge schwingt sich mit seinem Tretroller mitten über die Straße. Er verliert das Gleichgewicht und stürzt. Er steht wieder auf, klopft sich die Hose ab und rollt weiter. Noch vor wenigen Wochen wäre Rollerfahren für ein Kind an dieser Straße, über die täglich 28.600 Autos rollten, hoch riskant gewesen. Heute ist der rollende Junge so etwas wie ein vom Wind verwehter Präriebüschel in einer verlassenen Westernstadt. Es herrscht gespenstische Stille. Die Wehringhauser Straße, so finden es viele Anlieger, ist vom Verkehrs-Hot-Spot zur Geisterstadt geworden, seitdem der erste Abschnitt der Bahnhofshinterfahrung seinen Dienst aufgenommen hat. Die Autos sind weg, die Stille ist eingekehrt. Wie kann es hier, wo Wehringhausen in seiner heutigen Form einst entstand, weitergehen?

Zoran Novakov isst gerade zu Mittag. Novakov ist der Wirt der Gaststätte „Zur Krone“ direkt am Bodelschwingh-Platz. Im Gegensatz zu seinem Mittagsgericht schmeckt ihm die Planung rund um die Bahnhofshinterfahrung überhaupt nicht. „Da werden Millionen ausgegeben“, sagt er und deutet durch die Fensterscheibe auf den Hinterfahrungsbereich, „und hier vergisst man, etwas Ordentliches zu planen.“ Am Bodelschwingh-Platz müsse ein neues kleines Zentrum entstehen. Mit neuen Händlern. Sagt Novakov. „Allein in der Ecke hier stehen zehn Geschäfte leer.“

Keimzelle Wehringhausens

Der Bodelschwingh-Platz war mal so etwas wie die Keimzelle Wehringhausens. 1870 war Wehringhausen eine Siedlung von einem Dutzend Bauernhöfen. Als die industrielle Revolution die Höfe verdrängte und am gleichen Ort Fabriken entstehen ließ, wuchs der Stadtteil innerhalb von 30, 40 Jahren hinauf Richtung Schumannstraße und Stadtgartenallee. Um den Bodelschwingh-Platz herum lebten die Arbeiter, am Wilhelms-Platz die Einzelhändler und die Gut-Bürgerlichen und oben, Richtung Wald, die gut verdienenden Fabrikbesitzer. Bis heute sind noch deutliche Muster dieser sozialen Verteilung in Wehringhausen zu erkennen.

Gespräche mit Privatbesitzern

Für Bezirksbürgermeister Arno Lohmann kommt hier an der aktuell so stillen Wehringhauser Straße eine große Gemengelage zusammen. „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass hier in Zukunft mal ein Szene-Viertel entstehen kann mit Anbindung an die Minervastraße und das Schlachthof-Gelände. Dafür muss man aber ins Gespräch mit vielen Privateigentümern entlang der Straße kommen.“ Dass man hier eine Konkurrenz zum Wilhelmsplatz aufbauen könne, hält er nicht für möglich. Dafür aber, dass junge Leute – zum Beispiel Studenten, für die die Nähe des Bahnhofs und damit auch nach Dortmund, Essen oder Bochum wichtig ist – sich hier eine Wohnung suchen könnten. Die Politik könne nur die Rahmenbedingungen schaffen, die Privateigentümer müssten die Sache dann in die Hand nehmen.

Die Ruhe kam so plötzlich

Wenige Meter weiter lautes Gehämmer. Die Bahnhofshinterfahrung wird weitergebaut. „Die sollen ruhig mal etwas lauter arbeiten“, sagt Carsten Lobert, „die Ruhe kam ja doch etwas plötzlich, daran muss man sich erst gewöhnen.“ Seit 60 Jahren betreibt seine Familie an der Wehringhauser Straße die gleichnamige Metzgerei. Lobert glaubt nicht so recht daran, dass man hier etwas Vernünftiges ansiedeln könne. „Für das obere Wehringhausen wird etwas getan und hier nicht“, sagt er. Das sei unbefriedigend.

Die stillgelegte Straße scheint aktuell durchzuatmen. Die alten wilhelminischen Häuserfassaden sind voller Staub. Jetzt, da es hier so still ist, fällt das alte, optisch heruntergekommene Denkmal kurz vor der Abbiegung zum Schlachthof auf. Die ehemalige Gaststätte „Simpl“. Arno Lohmann hat hier übrigens mal gekellnert. Lange her. In einer Zeit, in der die „Wehringhauser“ tatsächlich noch ein kleines Szene-Viertel war.

Status quo am Bodelschwinghplatz

Zoran Novakov überlegt, seine Kneipe abzugeben. Er sieht keine Perspektive mehr hier. Es wäre der nächste Leerstand an der Wehringhauser Straße und rund um den Bodelschwingh-Platz, der vor vielen Jahrzehnten mal ein mondäner Platz war und um den herum ein kleines Handelszentrum angesiedelt war. Um 1900 lag dort, am Wehringhauser Bach, das Zentrum der Wehringhauser Kleineisen- und Lederbearbeitung und der Gastronomie. Ideen gab es hier schon viele. Entstanden ist bislang nichts.

Stadt plant den Rückbau der Straße

Der Leiter der städtischen Verkehrsplanung, Jörg Winkler, kann positive Signale in Richtung unteres Wehringhausen senden. „Wir befinden uns da in einer einmaligen Situation. Aus dem Stadtentwicklungsprogramm „Soziale Stadt Wehringhausen“ werden wir höchstwahrscheinlich Zuschüsse für den Rückbau der Wehringhauser Straße erhalten.“

Die bisherige Idee: Die Bordsteine sollen verschwinden und einladende Mischflächen mit wesentlich mehr Durchgrünung sollen entstehen. Die Straße erhielte so einen platzähnlichen Charakter. „Dass der Rückbau zuschussfähig ist, ist für gewöhnlich sonst nie der Fall. Um eine zukunftsträchtige Quartiersentwicklung voranzutreiben, müssen wir hier ganz klar mit der Umstrukturierung des Straßenraums in Vorlage gehen“, macht Winkler deutlich, dass eine neue Optik des Reviers für mögliche Impulse bei privaten Eigentümern oder Investoren sorgen könne. Der Rückbau der Straße könne mehrere hunderttausend Euro kosten, so Winkler. Auch der Bodelschwingh-Platz soll nach Winklers Vorstellungen integriert werden.

Chantal de Witt von der Hagen-Agentur findet, dass hier ähnlich verfahren werden könne wie im Bahnhofsviertel: „Dort haben wir eine Umfrage initiiert und die Menschen nach Verbesserungsvorschlägen und Ideen gefragt.“ Auf Grundlage der Ergebnisse sollen bald Arbeitsgruppen gebildet werden, die dann klare Arbeitsaufträge formulieren sollen. De Witt: „Das hier eine Einkaufsstraße entsteht, glaube ich eher nicht. Aber die vielen Eigentümer müssen überzeugt werden, dass man hier gute Rahmenbedingungen für junge Leute schaffen könnte, die hier hinziehen könnten.“

Auch Martin Vöcks, der im neu gebildeten Wehringhauser Quartiersmanagement unter anderem für das Thema Städtebau zuständig ist, glaubt, dass der Weg über die Eigentümer der richtige ist. „Wir brauchen hier Leute, die sich etwas trauen. Die Ansprache der Eigentümer wäre ein wichtiger Schritt, um hier Entwicklungen voranzutreiben.“