Hagen-Wehringhausen. Es klingt wie eine Posse aus den Tollhäusern Absurdistans: Der Weiterbau der Bahnhofshinterfahrung droht auf unabsehbare Zeit ins Stocken zu geraten, wenn sie ihre Interessen vor dem Oberlandesgerichts nicht durchsetzen kann. Die Stadt Hagen darf weiterhin das rosafarbene Wohnhaus nicht abreißen.

Dort lebt ein Familienclan, der zwar keinen Cent Miete überweist, die städtische Immobilie aber auch nicht räumen mag, ja den Bautrupps noch nicht einmal den Zugang zum Grundstück gestattet. Sollte die Stadt im Rahmen der seit Monaten schwelenden juristischen Auseinandersetzung vor den Richtern des Oberlandesgerichts Mitte Oktober ihre Interessen nicht durchsetzen können, droht NRWs größte kommunale Straßenbaustelle mit einer Investitionssumme von 65 Millionen Euro zeitlich völlig aus dem Ruder zu laufen.

„Hier wird die Justiz auf dem Wege der Verfahrensdauer missbraucht“, zeigt sich der Hagener Rechtsdezernent Thomas Huyeng mit seiner Geduld allmählich am Ende. Seit 20 Jahren lebt die Familie K. in der Wohn- und Gewerbeimmobilie am Ufer der Ennepe. Schon der Vorbesitzer, der Dresdener Hochschullehrer Prof. Thomas Wolff, hatte zuletzt keine Mieten mehr erhalten, so dass die Stadt davon ausging, mit einer Räumung des Objektes leichtes Spiel zu haben. Doch mit Hilfe einer anwaltlich geschickt inszenierten Hinhaltetaktik – federführend ist ausgerechnet der Sohn des Vorbesitzers – lebt der Clan bis heute in dem heruntergekommenen Bau. Selbst eine seitens der Stadt angebotene Abfindung von 40.000 Euro wurde in den Wind geschlagen.

Brücke wird blockiert

Ein Zustand, der Matthias Hegerding, beim Hagener Wirtschaftsbetrieb verantwortlicher Projektleiter für die Bahnhofshinterfahrung, schier verzweifeln lässt: „Wir sind jetzt genau an der Nahtstelle zwischen dem ersten und zweiten Bauabschnitt“, würde er am Standort des Wolff-Gebäudes gerne den Boden erkunden, um für die dort geplante Ennepe-Brücke die Gründung vorzubereiten. Stromtrassen entlang der Ufermauer müssten verlegt werden, und eine aus ökologischen Gründen dringend gebotene Entwässerungsachse für einen Stauraumkanal sowie die Straßenflächen kann nicht entstehen. „Etwa eine halbe Million Euro an Bauleistungen liegen hier brach. Immer wieder haben wir umorganisiert, aber jetzt ist der Bauablauf endgültig gestört.“

Zähes Verfahren bindet die Gerichte

Der juristische Streit um die Räumung der Immobilie hat sich bereits zu einer unendlichen Geschichte ausgewachsen. Hier die wesentlichen Marksteine auf dem Weg durch die gerichtlichen Instanzen:
20. August 1994:
Prof. Dr. Thomas Wolff, heute Hochschullehrer an der TU Dresden, schließt mit der Familie K. einen Mietvertrag über die Weidestraße 16-18 (Wohnen und Gewerbe).
6. August 2012:
Wolff kündigt das Mietverhältnis wegen offener Mietzahlungen fristlos.
2. April 2013:
Die Stadt fädelt eine Räumungsklage ein, weil Familie K. das Grundstück zu Unrecht in Besitz habe und dieses nicht räumt.
24. Mai 2013:
Prof. Wolff ermächtigt per Besitzübergabe-Vereinbarung die Stadt ausdrücklich, die Herausgabe des Grundstücks geltend zu machen.
11. Juli 2013:
Die Stadt reicht eine Räumungsklage beim Amtsgericht ein.
21. November 2013:
Das Amtsgericht leitet den Fall überraschend an das Landgericht weiter. Ein Anwalt der Familie K. schlägt einen Vergleich mit einer Entschädigungssumme von 40 000 Euro vor.
11. Februar 2014:
Der Verwaltungsvorstand stimmt dem Vergleichsvorschlag unter der Bedingung zu, dass Familie K. das Areal bis Ende Februar 2014 räumt.
28. Februar 2014:
Das Vergleichsangebot scheitert, weil die Fristsetzung in den Augen der Familie zu eng bemessen sei.
22. März 2014:
Der Sohn des Vorbesitzers Wolff, inzwischen Anwalt der Familie K., macht der Stadt ein erneutes Vergleichsangebot, dass die Stadt angesichts der Bedingungen sofort ablehnt.
2. April 2014:
Die Stadt (seit November 2013 offiziell Eigentümerin der Immobilie) stellt beim Landgericht einen Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, dass die Familie K. das Grundstück zu räumen und herauszugeben habe.
28. April 2014:
Das Gericht folgt dem Eilantrag der Stadt – die Weigerung der Familie K. sei verbotene Eigenmacht. Das Grundstück sei vollständig zu räumen und an die Stadt herauszugeben (einstweilige Verfügung).
12. Juni 2014:
Das Landgericht Hagen lehnt den Widerspruch der Familie K. ab – die Stadt habe im Hinblick auf den erheblich gestörten Bauablauf bei der Bahnhofshinterfahrung ein berechtigtes Interesse an der sofortigen Räumung.
14. Juni 2014:
Die Familie K. legt Berufung beim OLG Hamm ein.
30. Juni 2014:
Das OLG Hamm hebt die Zwangsvollstreckung auf bis zum Erlass eines endgültigen Landgericht-Urteils auf. Die Hammer Richter sehen in der Sache keine Eilbedürftigkeit.
14. Juli 2014:
Das OLG Hamm setzt den 16. Oktober 2014 als mündlichen Verhandlungstermin für die einstweilige Verfügung an.
12. August 2014:
Der Prozesskostenhilfe-Antrag der Familie K. wird vom OLG Hamm abgelehnt. Begründung: Die Stadt habe eine Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Immobilie, der Vorstoß der Familie habe hingegen keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Hegerding fürchtet, dass die ausführende Firma bald Nachtragskosten für den entstehenden Verzug geltend macht. Der Abrissschutt des Wolff-Gebäudes, der ursprünglich in einem Landschaftsbauwerk am Rande der alten Wehringhauser Straße verschwinden sollte, muss womöglich teuer abgefahren werden. Die weiteren Ausschreibungen stocken, schon heute drohen Mehrkosten in sechsstelliger Höhe.

Regressansprüche

Obendrein könnte die Zuschusskulisse durch Bund und Land ins Kippeln geraten, wenn das Gesamtprojekt nicht bis 2018 abgeschlossen ist. „Natürlich prüfen wir Schadensersatz- und Regressansprüche“, kündigt Huyeng an. Doch es steht zu befürchten, dass bei der Familie ohnehin kaum etwas zu holen ist.

Das nächste Wort in dem zähen Verfahren hat am 16. Oktober das Oberlandesgericht in Hamm. Wenn die dortigen Richter in dem laufenden Eilverfahren jedoch auf die Bremse treten und zunächst ein Urteil im Hauptverfahren vor dem Landgericht Hagen abwarten möchten, droht bis zum Sommer 2015 juristisch rein gar nichts zu geschehen. Denn die 4. Zivilkammer hat gerade einen neuen Vorsitzenden bekommen, was Terminanberaumungen eher entschleunigt. Im Anschluss wäre auch im Hauptverfahren noch eine Berufung am OLG Hamm zulässig. „Dann sind wir im Jahr 2017“, möchten sich Huyeng und Hegerding gar nicht erst vorstellen, was diese Terminkulisse mit dem Hinterfahrungsprojekt macht.