Hagen/Vrigne-aux-Bois. Der fast 90-Jährige Jean Moutarde aus Frankreich war im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter in Halden eingesetzt. Er hat seine Erinnerungen niedergeschrieben. Es ist ein erstaunlich präzises Bild der damaligen Zeit.

Wenn Zeit vergeht, verblassen Erinnerungen. Schlimmes kann weniger schlimm werden. Schönes weniger schön. Die Erinnerungen von Jean Moutarde sind anders. Präzision statt Blässe. Klarheit statt Nebel. Der freundliche Mann aus einem 3400-Seelen-Städtchen in der Champagne hat die Erinnerungen an seinen Zwangsarbeitsdienst niedergeschrieben.

Es ist der Zweite Weltkrieg. Und diese Geschichte spielt in einem Ort, den ein Franzose wohl Alden nennen würde. Alden ist Halden. Und wir schreiben das Jahr 1943. Sechs Monate vor dem Großangriff der Roten Armee gegen die deutschen Linien vor Stalingrad. Die Wende auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz steht bevor. Es ist die Zeit, in der Jean Moutarde auf eine nie gewollte Reise geht. Der französische Pflichtarbeitsdienst (Service du travail obligatoire) entsendet Moutarde nach Westfalen. Über einige Zwischenstationen landet der 19-Jährige am 11. März 1943 um Punkt zehn Uhr am Hagener Hauptbahnhof.

Nachhaltig Beeindruckt

Schnitt. Zeitwechsel. In der Firma KB Schmiedetechnik im Lennetal sprechen wir mit Angelika Schulte, Geschäftsführerin des Hagener Traditionsunternehmens. Sie hat die Memoiren des Monsieurs aus Nordfrankreich gelesen und ist nachhaltig beeindruckt. „Ein toller Mann. Sein Besuch hier bei uns hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, sagt sie.

Zu sagen, dass Moutardes Geschichte in Schultes Unternehmen spielte, ist nicht ganz richtig. Denn Moutarde arbeitete zwischen 1943 und 1945 für die Gesenkschmiede Knippschild und Beckmann. An gleicher Stelle. Wenn man nicht allzu genau sein möchte, könnte man sagen, dass KB Schmiedetechnik doch das Gleiche sei. Das wäre aber nicht richtig. Denn KB ist ein Nachfolgeunternehmen von Knippschild und Beckmann. Auch, wenn das Firmenkürzel immer noch an die Vorgänger erinnert.

Schnitt. Zurück nach 1943. Jean Moutarde landete nach einen Zwischenstopp am Reichsautobahnlager in Vorhalle – umgesiedelte Arbeitskräfte bauten hier an der Autobahn 1 von Köln nach Bremen – im Lager Borgmann in Halden. „Bei meiner Ankunft waren bereits Leute da. Belgier und Franzosen und Niederländer. Diese Mischung verursachte manchmal lustige Situationen, die den Aufenthalt verschönerten“, berichtet Moutarde. Jean Moutarde berichtet vom freundlichen Gastgeber, einem Bäcker aus Halden, wohl auch einst gefangen genommener Franzose, und ausziehbaren Strohbetten. Einen Tag nach seiner Ankunft betrat Moutarde erstmals das Gelände der Firma Knippschild. „Hier traf ich das erste Mal auf den Meister Böhle, einen untersetzten Mann, ein Obermeister, den sie nicht umsonst den ,Führer’ von Knippschild und Beckmann nannten“, sagt Moutarde.

Unmenschliche Belastung

Er berichtet bildhaft von den unwürdigen Arbeitsbedingungen, von unmenschlichen Belastungen für Köper und Seele.

Und doch durchdringen Anekdoten seine Zeilen, mischen sich fröhliche Momente in die Erzählungen von Nazitum, Zwangsarbeit, Lagerkoller und so schweren Arbeitstagen, dass er manchmal gestützt auf seinen Schmiedezangen die letzten Stufen in den Umkleideraum bewältigen musste.

Schnitt. Schauen wir nach Vrigne aux Bois. Ein kleines Dörfchen in der Champagne im Nordosten Frankreichs. Dort lebt Jean Moutarde heute. Neulich bekam er Besuch von einem Reporter der Lokalzeitung L’ Ardennais. Der Titel der Story, die wenige Tage später erschien: „Die Geschichte von Jean Moutarde interessiert die deutsche Presse.“ Auf dem Titelfoto hält Moutarde eine Ausgabe der Westfalenpost hoch. Auf der Couch neben ihm sitzt Prosper Guthfreund, Mitarbeiter von KB Schmiedetechnik in der französischen Dependance, der die Zeitung vorbeibrachte. „Moutarde ist ein toller Mensch. Schön, dass sie seine Geschichte aufgreifen.“

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Schnitt. Zurück nach Halden 1945. Nach 26 Monaten harter Arbeit darf Jean Moutarde Hagen in Richtung Heimat verlassen. Der Krieg neigt sich dem Ende entgegen. In Moutardes Kopf werden die zwei Jahre in Hagen für ewig verankert bleiben.

Fremdarbeiter, wie Jean Moutarde einer war, wurden zu Tausenden während des Krieges aus den besetzten Gebieten nach Hagen gebracht. „Obwohl wir ungelernt waren und die Arbeitsumstände nicht gut, sind nie wirklich schlimme Unfälle passiert“, sagt Moutarde, der in diesen Tagen seinen 90. Geburtstag feiert. Wir gratulieren.