Hagen. . Der ehemalige Zwangsarbeiter Fjodor Kasimirow trifft sich nach 67 Jahren mit den Töchtern der Familie Fischer aus Hagen. Drei Jahre hat der 87-Jährige Ukrainer auf dem Bauernhof gelebt und gearbeitet.

Er kennt noch die Namen der Kühe, zeigt auf ihre Plätze auf der Weide. „Erika stand hier, Loni da, Tula weiter weg.“ So als wäre es gestern gewesen. Aus der Wiese ist sattes feines Grün geworden. Und der Bauernhof der Familie Fischer in Hagen-Berchum längst neue Heimat vom Märkischen Golf Club. Fjodor Kasimirow ist nicht hier, um sein Handicap zu verbessern. Nein. Der 87-Jährige aus Mariupul in der Ukraine taucht in die Vergangenheit ab. Als 17-Jähriger von den Nazis nach Deutschland verschleppt, arbeitet er hier drei Jahre in der Landwirtschaft.

„Am 19. April 1942“, erinnert sich der Ukrainer, „brachte man uns nach Iserlohn. Am 20. April durften wir ausruhen. Hitler hatte Geburtstag. Und am 21. April wurden wir verteilt. Die kleinsten und schwächsten Ostarbeiter schickte man auf Bauernhöfe.“ Er gehört dazu. „Ich habe gesagt, ich verstehe etwas von Landwirtschaft und immer gehofft, ich komme damit durch.“ Auf dem Bauernhof der Witwe Elisabeth Fischer erkennen die Söhne Heinrich und Paul sowie ihre fünf Töchter Marianne, Elisabeth, Ursula, Josefa und Anne schnell: Der junge Kerl hat keine Ahnung und sieht zum ersten Mal eine Kuh aus der Nähe.

"Wie eine zweite Mutter gewesen"

Fjodor Kasimirow lächelt noch im Nachhinein. „Ich habe immer an den Eutern gezogen, vielleicht kam eine Tasse voll Milch. Die Kuh war wütend und hat ausgeschlagen.“ Er lernt schnell, fühlt sich in der Damenwelt auf dem Hof wohl. Die Hausherrin ist für ihn „wie eine zweite Mutter gewesen“. Und die Töchter im Alter von 12 bis 20 Jahren staunen über den vermeintlich barbarischen Feind aus dem Osten, den der Krieg zu ihnen geführt hat - ein Jüngelchen, das kaum selber weiß wie ihm geschieht. Mit am Küchentisch darf er nicht sitzen. Das ist für Ostarbeiter verboten. Mutter Elisabeth schert sich irgendwann nicht mehr darum. Vielmehr staunen alle, wie schnell „ihr Iwan“ Deutsch lernt, schön schreiben und malen kann.

Es fließen Tränen der Rührung

Ob er damals eine Favoritin unter den Mädchen hatte? Schweigen am Kaffeetisch, verräterisches Grinsen. Die Schwestern halten auch im Alter dicht. Tränen der Rührung stehen ihnen in den Augen als Fjodor Kasimirow erzählt wie ihn die Familie vor dem Erschießen gerettet hat. „Die Soldaten kamen auf den Hof und wollten mich töten. Elisabeth hat sich ihnen in den Weg gestellt. Ich bin tief in ihrer Schuld.“

Unauffindbar - auf den ersten Blick

Sicherlich ein Grund dafür, warum sich der rüstige Rentner im Juli 2009 an den Internationalen Suchdienst im hessischen Bad Arolsen wendet und um Hilfe bei der Suche nach den Fischers bittet: „Vielleicht könnten Sie mir mithelfen, sie ausfindig zu machen. Solche gutmütigen Menschen gibt es sehr wenig auf dieser Welt.“ Die Suche gestaltet sich in Hagen schwierig. Mutter Elisabeth Fischer stirbt 1976 im Alter von 88 Jahren, ihre Töchter nehmen nach der Hochzeit die Namen ihrer Ehemänner an: Unauffindbar, so scheint es auf den ersten Blick.

Die Spur führt zu Mechthild Müller

Beim Friedhofsamt der Stadt klingelt es irgendwann. Einem Mitarbeiter, er stammt aus Hagen-Berchum, ist die Familie Fischer ein Begriff. Die Spur führt zu Mechthild Müller, Tochter von Ursula Brenken, geborene Fischer, die in Hagen-Fley lebt. Die 58-Jährige lacht heute über ihre Antwort auf die Frage am Telefon, ob bei ihrer Oma Elisabeth ein Ukrainer mit dem Namen Fjodor Kasimirow gearbeitet habe.

Ihre Antwort: „Nein, ich kenne aus Erzählungen nur jemanden als ‘unser Iwan’.“

Iwan hießen damals alle Zwangsarbeiter aus dem Osten im Volksmund. Es klärt sich auf. Und die Hagenerin nimmt Kontakt mit ihm auf. Ihre Briefe beantwortet der Ukrainer umgehend.

Die Reise kostet Mühe und Nerven

Seitenlang beschreibt er sein Schicksal nach der Befreiung in Deutschland. „Nach dem Krieg wollte ich nach Hause, aber die Sowjets haben mich in ein Arbeitslager nach Murmansk geschickt, weil ich aus ihrer Sicht im Krieg für die Deutschen gearbeitet habe. Erst 1949 darf ich zurück nach Mariupol.“ Sein Wunsch, die strapaziöse Reise ins fast 3000 Kilometer entfernte Hagen anzutreten ist groß: „Meine Tage sind gezählt.“

Mechthild Müller fädelt das Wiedersehen ein, hält mit der deutschen Botschaft in Kiew Kontakt, kümmert sich um das Visum, nimmt ihn auf. Es klingt einfach, kostet aber Mühe und Nerven. Ihre Mutter Ursula bezahlt das Flugticket und verliert kein Wort darüber.

Das letzte Mal

Am Kaffeetisch bleibt am Ende nur Staunen. Bei Streuselkuchen und Kaffee werden die alten Damen wieder zu Mädchen und der Senior vom Schwarzen Meer zum Junior. Sie schwärmen nicht von der guten alten Zeit. Sie freuen sich über die Erinnerung an so viel Herzenswärme und Menschlichkeit mitten im Krieg mit „unserem Iwan“. Und alle wissen, ein nächstes Mal wird es nicht geben.