Hagen. Im Theater Hagen feiert die Rockshow „Wenn die Nacht am tiefsten“ eine ganz außergewöhnliche Premiere.
Es gibt sie, diese Abende, von denen man sich wünscht, dass sie am liebsten nicht enden mögen. Sie sollen einfach immer fortdauern, weil sie in so vielen Momenten emotional so tief berühren. Weil das, was man an einem solchen Abend erlebt, so besonders und auf eine gewisse Art einzigartig ist. Und deshalb wirkt es wie ein Schock, wenn gemeinsam mit dem Aufheulen des Motors nach der Vorstellung das Radio im Auto anspringt und ein x-beliebiger Song, den man gefühlte tausendmal gehört hat, aus den Boxen dröhnt.
X-beliebig ist nichts in diesem Theater Hagen. X-beliebig ist nichts bei dieser von Michaela Dicu inszenierten Rock-Show „Wenn die Nacht am tiefsten“. X-beliebig ist nichts, wenn Vanessa Hennig, Patrick Sühl und Alexander Brugnara an diesem in so vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Abend mit Andres Reukauf und Musikern (die Gitarristen mit Maske) auf der Theaterbühne Hagen singen.
Hagen als Keimzelle der Neuen Deutschen Welle
Sie singen und spielen in Hagen – wo auch sonst. . . In der Stadt, in der sich Bands wie Grobschnitt und Extrabreit gegründet haben, in der Nena als Susanne Kerner geboren wurde und aufwuchs. In der Stadt, die sich selbst als Keimzelle der „Neuen Deutschen Welle“ sieht und sich deshalb im Herbst 2018 mit der Ausstellung „Komm nach Hagen, . . . mach dein Glück!“ im Osthaus-Museum gefeiert hat.
Welche Erwartungen verbindet man mit Rockkonzerten in Hagen? Laute Töne, harte Gitarren und Menschen, die dicht beieinander stehen, klatschen, schwitzen, grölen, gemeinsam feiern. Zum Beispiel immer dann, wenn Extrabreit auf ihrer Weihnachtstour zum Heimspiel in die Stadthalle bitten. Das Heimspiel fällt 2020 aus.
30 reservierte Karten werden nicht abgeholt
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Also: Wie soll all das funktionieren in einer Zeit, in der die Corona-Pandemie Alltag und Veranstaltungen bestimmt? 800 Menschen passen eigentlich in den großen Saal im Stadttheater Hagen, nur 150 sind da, obwohl 180 hineingedurft hätten. Was daran liegt, dass 30 reservierte Karten nicht abgeholt worden sind. „Ärgerlich ist so etwas“, sagt Ina Wragge, Sprecherin des Theaters und Dramaturgin der Show.
Dieses Ärgernis aber ist das einzige. Denn die 150, die im Saal sind, die zwar nicht mitsingen, dafür aber mitklatschen und -tanzen dürfen und sich eine Make aufsetzen müssen, wann immer es sie nicht mehr in den Theatersitzen hält, versuchen, die freien Plätze links, rechts, vor und hinter sich vergessen zu machen. Dazu kommen Sänger und Sängerinnen, Musiker und Tänzer, denen man in einer perfekt durchchoreographierten Show in keinem Moment anmerkt, dass sie vor weit mehr leeren als besetzten Plätzen stehen.
Lieder voller Botschaften und Gefühle
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Und weil die Lieder – bester deutscher Rock, Neue Deutsche Welle und ein bisschen Pop – voller Botschaften und voller Gefühle stecken, gelingt ein großartiges Konzert, dem man angesichts der Voraussetzungen eine solche Großartigkeit nicht zugetraut hätte. Rockmusik kann auch ohne Party-Extase und Schwitzen funktionieren – wenn die restlichen Zutaten stimmen.
Sie stimmen – auch weil die Lieder aus den Jahren 1974 bis 2012 vielfach nichts an Aktualität eingebüßt haben. Zum Beispiel wenn beim Extrabreit-Klassiker „Polizisten“ (1982) tiefste Bässe durch den Saal wummern und die Namen derjenigen, die zuletzt durch Polizeigewalt in den USA gestorben sind, ebenso auf Leinwänden erscheinen wie die der Polizisten, die im Dienst ums Leben gekommen sind. Oder wenn bei Grönemeyers „Alkohol“ (1984) es um den „Lebensretter in der Not geht“ und die Protagonisten auf Kisten der Hagener Privatbrauerei Vormann Platz nehmen. Oder wenn bei der entkölschten Version von „Kristallnacht“ (1982) jener rechte Mob im Fokus steht, der damals wie heute Ausländer als aussätzig ansieht und für den Schwule Verbrecher sind.
Standing Ovations mit Maske
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Am Ende muss er doch enden, dieser Abend, der nicht enden soll. Mit zwei Zugaben („Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ und „Currywurst“) und mit 150 Menschen, die so gerne die ganze Zeit mitgesungen hätten, die sich noch ein letztes Mal von ihren Sitzen erheben, ihre Masken aufsetzen und klatschen und klatschen und klatschen. Und die noch nichts von dem Schock ahnen, der sie kurze Zeit später im Auto einholen soll. . .