Volkmarsen/Kassel/Brilon. Das Gericht verurteilt den Amokfahrer vom Rosenmontagszug 2020 in Volkmarsen zur Höchststrafe. Der Anwalt will in Revision gehen.
Zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen versuchten Mordes in 89 Fällen und gefährlicher Körperverletzung in 88 Fallen hat das Landgericht Kassel den inzwischen 31-jährigen Mann verurteilt, der am 24. Februar 2020 sein Auto in den Rosenmontagszug von Volkmarsen gesteuert hatte. Wegen der dabei gezeigten hohen kriminellen Energie stellte das Gericht die besondere Schwere der Tat fest. Damit ist eine automatische Haftprüfung nach 15 Jahren ausgeschlossen.
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Ob er jemals wieder in Freiheit kommen wird, hängt von dem 31-jährigen Mann selber ab, denn das Gericht hat zugleich den Vorbehalt einer Sicherungsverwahrung ausgesprochen. Das bedeutet: Der Amokfahrer von Volkmarsen muss im Gefängnis mit Psychologen zusammenarbeiten und an seiner Persönlichkeitsstörung arbeiten. Nur wenn die Psychologen ihm bescheinigen, dass bei ihm Wiederholungsgefahr mehr besteht, bleibt er von der in Sicherungsverwahrung verschont.
Amokfahrt in Volkmarsen: Mordmerkmale erfüllt
Damit ist das Gericht in allen wesentlichen Punkten der Argumentation und der Strafmaßforderung der Staatsanwaltschaft gefolgt. Der Vorsitzende der sechsten Großen Strafkammer, Volker Mütze, stellte fest, dass die Mordmerkmale der Heimtücke und der gemeingefährlichen Begehungsweise eindeutig gegeben seien. Einzig das von der Staatsanwaltschaft ins Gespräch gebrachte Mordmerkmal der niederen Beweggründe vermochte der Richter nicht zu erkennen, weil hierfür die Motivlage des Täters bekannt sein müsse. Doch der Täter ziehe es bekanntlich vor, zu schweigen.
Amokfahrt in Volkmarsen: Anwalt kündigt Revision an
Die Verteidigung hatte in ihrem Plädoyer in der vergangenen Woche kein konkretes Strafmaß beantragt, sondern nur um eine insgesamt mildere Bewertung der Amokfahrt gebeten. Im Anschluss an das Urteil erklärte jedoch Strafverteidiger Bernd Pfläging, dass er auf jeden Fall Revision beim Bundesgerichtshof einlegen werde, sobald das schriftliche Urteil vorliege. Pfläging wörtlich: „Da steckt viel juristische Musik in dem Urteil. Besonders weil der Angeklagte sich nicht zur Tat geäußert hat, ist die Konstruktion mit der Strafrahmenverschiebung und der Wiederholungsgefahr anzuzweifeln.“
Amokfahrt in Volkmarsen: Schockierende Details
Das Schweigen sei zwar sein gutes Recht, allerdings führe es bei der Beurteilung seiner künftigen Gefährlichkeit dazu, dass das Gericht zum Schutz der Gesellschaft gezwungen sei, den Vorbehalt einer späteren Sicherungsverwahrung auszusprechen. Richter Mütze mutmaßte sogar, dass der Angeklagte seine Tat geplant haben könnte, um seinem langweiligen Leben zu entfliehen und einen Neuanfang hinter Gittern in staatlicher Obhut machen zu können. Im Übrigen basiere das Urteil auf dem Ergebnis der Beweisaufnahme. So sei durch Zeugenaussagen zweifelsfrei untermauert, wie sich der Angeklagte am Morgen des Rosenmontags, 24. Februar 2020, systematisch auf seine Tat vorbereitete, seinen silberfarbenen, fast 200 PS starken Mercedes schon gegen 10 Uhr in der Parkbucht vor der Bahnschranke in der Lütersheimer Straße abstellte, seine Kamera am Armaturenbrett (Dashcam) montierte und erst einmal einen Pfandbon im Supermarkt einlöste.
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Dann ging er nach Hause, räumte seine Wohnung auf und kehrte gegen 14 Uhr zu seinem Auto zurück, spielte „Bubble-Shooter“ und betrachte auf der Kreuzung stehend den vom Marktplatz herannahenden Festzug. Dann stieg er in sein Auto, wartete auf den richtigen Moment. Als sich dann um 14.41 Uhr die Bahnschranken hoben, startete der damals 29-jährige Mann sein Auto, gab Gas und steuerte auf die Kreuzung Steinweg/Arolser Straße zu. Die hier von Polizei und Ordnungsamt als Fahrzeugesperre aufgestellten Kleintransporter umfuhr der Angeklagte wie bei einer Slalomfahrt. Ebenso steuerte er um den Fahrbahnteiler herum und lenkte sein Auto mit 50 bis 60 km/h in die Festzugteilnehmer. Dabei rammte er zunächst die große blaue Papiertonne, in der sich ein Mitglied der Festzuggruppe „Wilde 13“ als Oskar aus der Sesamstraße eingerichtet hatte. Umherfliegende Tonnenteile verletzten Festzugteilnehmer und Zuschauer. Mehrere Personen flogen über die Motorhaube, andere wurden vom Kotflügel oder den Außenspiegeln erfasst, wieder andere wurden zu Boden gerissen, als neben ihnen stehenden Zuschauer zu Boden geworfen wurden.
Amokfahrt in Volkmarsen: Mutter wischt Sohn Blut aus dem Gesicht
„Nach einem Moment der Stille“, so formulierten es mehrere Zeugen übereinstimmend, lief eine nie dagewesene Kaskade der Rettungseinsätze an. Dutzende Rettungswagen und Notärzte wurden aus ganz Nordhessen und dem angrenzenden Westfalen nach Volkmarsen geordert. Bis die jedoch eintrafen, reagierten die Volkmarser so vorbildlich, wie es sich jeder Katastrophenschutz-Planer vorstellt: Nach einem Moment der Stille waren Dutzende von Ersthelfern zur Stelle. Die vielen Volkmarser Feuerwehrleute, die selber am Festzug teilnahmen oder den Festzugweg abgesichert hatten, stürzten sich in das Chaos und packten überall da an, wo Hilfe gebraucht wurde. Eine Mutter schilderte, wie sie ihrem am Boden liegenden Sohn gerade erst das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte, als der wieder aufsprang und seine Feuerwehruniform anlegte und anderen half.
Amokfahrt in Volkmarsen: Feiernde Kinder in Karnevalslaune wurden zu Opfern
Zuschauer reagierten instinktiv und hielten Amokfahrer von erneutem Start seines Autos ab. Besonders erschreckend ist das, was mehreren Kindern geschah, als sie gerade damit beschäftigt waren, Bonbons und anderes Wurfmaterial der Karnevalisten vom Boden aufzulesen: Auch die Kinder wurden umgeworfen, vom Auto erfasst. Eines der Kinder wurde sogar vom Mercedes überrollt. Wie durch ein Wunder blieb jedoch auch dieses Mädchen von schweren Verletzungen verschont. Möglicherweise war es der automatische Bremsassistent, der schließlich den Motor abschaltete, sodass der Wagen mit einem Reifen auf dem Bürgersteig vor dem Rewe-Markt zum Stehen kam.
Umstehende Zuschauer reagierten instinktiv und hoben das Fahrzeug so weit an, dass das Kind aus der Nische unter dem Motorraum und der Bordsteinkante hervorgezogen und seiner Mutter übergeben werden konnte. Fast gleichzeitig riss eine 16-jährige Zuschauerin die Beifahrertür auf und kletterte auf den Beifahrersitz, um den Zündschlüssel abzuziehen, bevor der Amokfahrer den Wagen erneut starten konnte. Es kam zum Handgemenge zwischen den beiden. Diese wertvollen Sekunden reichten aus, dass noch weitere Zuschauer von der Fahrerseite her die Türen aufreißen und den Amokfahrer mit Fäusten vom erneuten Starten des Motors abhalten konnten. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich auch zwei Polizeibeamte, die das Festzuggeschehen in Zivil beobachteten, in das Fahrzeuginnere vorgekämpft. Sie drückten den Fahrer in seinen Sitz und ergriffen dessen Hände, um ihnen Handschellen anlegen zu können.
Volkmarsens Bürgermeister Hartmut Linnekugel erklärte vor vielen laufenden Kameras, dass er nach dem klaren Urteilsspruch mit einem Gefühl der Befriedigung nach Hause fahre. Das Geschehen an sich aber werde wohl immer in den Köpfen bleiben. Der Opferbeauftragte der hessischen Landesregierung, Dr. Helmut Fünfsinn, erklärte, das Gericht habe dem großen Leid der vielen Opfer Rechnung getragen. Das sei sehr wichtig gewesen, ebenso wie das klare Urteil.