Volkmarsen/Kassel/Brilon/Marsberg. Der mutmaßliche Amokfahrer vom Karnevalsumzug in Volkmarsen steht wegen Mordversuchs in 91 Fällen vor Gericht. Was sagen Psychologen über ihn?

Der Mammutprozess um die Amokfahrt beim Rosenmontag im Februar 2020 in Volkmarsen unweit von Marsberg im Hochsauerlandkreiswird vor der sechsten großen Strafkammer des Landgerichts Kassel fortgesetzt. Wie in den Wochen zuvor wird das Gericht unter Vorsitz von Richter Volker Mütze wieder viele Zeugen hören, die eigentlich nur das fröhliche Festzuggeschehen mitverfolgen wollten und dann unvermitteltOpfer eines Amokfahrerswurden, der wegen Mordversuchs in 91 Fällen angeklagt ist.

Lesen Sie auch: Sommer 2021 in Winterberg: Inzidenzflaute oder Urlaubs-Boom?

Lesen Sie auch: HSK-Politiker: „Gipfel ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit“

Daneben kommen aber auch Zeugen zu Worte, die dem Gericht helfen sollen, Einblick in die verschlossene Persönlichkeit des 29-jährigen Angeklagten zu bekommen. Der junge Mann hatte scheinbar keinerlei Freunde und nur wenige persönliche Kontakte zu anderen Menschen. Diese Kontakte beschränkten sich auf kurze Begegnungen mit Verkäufern im Rewe-Markt und im angrenzenden Getränkemarkt. Dort war er bekannt als regelmäßiger Käufer von Wodka-Flaschen, einem Cola-Mixgetränk und einer ausgefallenen Zigarettenmarke. Die Supermarkt-Mitarbeiter hörten von ihm nur die beiden Sätze „Und eine Packung Zigaretten.“ Und: „Ich zahle mit Karte.“ Darüber hinaus habe es nie auch nur ein Wort des Grußes oder der Verabschiedung gegeben.

 Der Angeklagte am Prozessauftakt im Mai.
Der Angeklagte am Prozessauftakt im Mai. © dpa | Swen Pförtner

Kurz Kontakt mit einem Psychologen

Am Tag nach der Tat hatte der Angeklagte kurz Kontakt mit einem Psychologen aus Haina, der als Konsiliararzt im Krankenhaus Korbach beschäftigt war. Seine Aufgabe war es, die Haftfähigkeit des Angeklagten festzustellen. Diesem Facharzt sind keinerlei Hinweise auf eine Psychose bei dem Angeklagten aufgefallen. Der Angeklagte sei orientiert gewesen, habe sich aber nicht zur Tat äußern wollen, so der Psychologe. Ganz ähnlich die Einschätzung eines weiteren Psychologen, der in der JVA Frankfurt zweimal mit dem Angeklagten zu reden versucht hat: „Ich habe keinen Zugang zu ihm gefunden. ... Ich halte ihn für einen sozial isolierten Menschen.“Am Mittwoch wird das psychologische Gutachten der vom Gericht beauftragten Psychologin erwartet. Dieses Gutachten wird am Ende über die Schuldfähigkeit des Angeklagten mitentscheiden.

Lesen Sie auch: Winterberg: Teure Tests für Tourismus „ein Riesenproblem“

Wenige Tage nach seiner Festnahme am 24. Februar 2020 wurde der mutmaßliche Amokfahrer von Volkmarsen von der Justizvollzugsanstalt Kassel in die JVA Frankfurt verlegt. Hintergrund war der Umstand, dass sich der Angeklagte in Kassel nicht mehr sicher fühlte, nachdem er von Mitgefangenen bedroht worden war. Straftäter, die kleinen Kindern Leid antun, haben es in der Regel nicht leicht im Strafvollzug. Nach der Verlegung hatte der 29-Jährige ein erstes, etwa 20-minütiges Gespräch mit dem Anstaltspsychologen, der sich nach dem Gemütszustand des Untersuchungshäftlings erkundigte. Dabei ging es um die Frage, ob er suizidgefährdet sein könnte. Bei dieser Gelegenheit hat der Psychologe auch über die Haftbedingungen informiert: Untersuchungshäftlinge werden 21 Stunden am Tag eingeschlossen und haben nur drei Stunden am Tag die Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten. Dieser Umstand wirkt normalerweise sehr belastend auf Gefangene, die zum ersten Mal einsitzen.

Anstaltspsychologe schilderte seine Eindrücke

Nicht so aber offenbar auf den Amokfahrer von Volkmarsen. Der Anstaltspsychologe schilderte dem Gericht, dass er den Eindruck gehabt habe, diese Nachricht sei für den Gefangenen eine Erleichterung gewesen. Im Übrigen habe der Angeklagte in sich zurückgezogen und verschlossen gewirkt. Er sei anscheinend daran gewöhnt gewesen, für sich alleine zu leben. Eine Einsicht in seine Tat und in die gravierenden Folgen der Tat habe der Angeklagte nicht gezeigt. Er sei vielmehr fest davon ausgegangen, dass er beim Haftprüfungstermin wieder auf freien Fuß gesetzt werden würde. Abschließend kommentierte der Psychologe: „Ich halte den Angeklagten für einen sehr sozial isolierten Menschen.

Lesen Sie auch: Sauerland: Warum im Gottesdienst die 3G-Regel nicht gilt

Die Leitende Anstaltsärztin der Frankfurter Justizbehörden berichtete, dass im Kollegenkreis routinemäßig darüber diskutiert worden sei, ob der Angeklagte in die Haftanstalt Weiterstadt verlegt werden sollte, weil man dort auf den Umgang mit psychisch gestörten Häftlingen spezialisiert sei. Es hätten sich jedoch keine Hinweise auf eine psychotische Störung ergeben. Konkret gefragt, ob der Angeklagte Entzugserscheinungen gezeigt habe, verneint die Anstaltsärztin: „Wer vier Tage in Haft ohne Alkohol ist und keine Entzugserscheinungen zeigt, der ist auch nicht auf Entzug.“

Mutter und Geschwister wollen nicht aussagen.

Mit Spannung erwartet wird jetzt das psychiatrische Gutachten der vom Gericht bestellten Psychiaterin Birgit von Hecker von der Vitos-Klinik für Forensische Psychiatrie in Bad Emstal.Sie hat den Prozess vom ersten Tag an mit verfolgt und jede der wenigen Regungen des Angeklagten notiert. Vor allem aber hat sie sich viel Zeit genommen für eine eingehende Befragung des Angeklagten. In den vergangenen drei Wochen hat das Gericht daher auch viele Zeugen aus dem Umfeld des Angeklagten geladen, etwa seinen Lehrherrn, Supermarkt-Mitarbeiter, die ihn an der Kasse des Getränkemarktes erlebt haben und Nachbarn. Doch sie alle konnten bisher nicht viel dazu beitragen, die verschlossene Persönlichkeit des Angeklagten zu ergründen, geschweige denn ein Tatmotiv aufzuzeigen.

Lesen Sie auch: Corona im HSK: Neue Corona-Regeln ´mal wieder unausgegoren

Umso wichtiger wäre es für das Gericht und auch für den Angeklagten selber, wenn seine nächsten Verwandten, die Stiefschwester, der Stiefbruder oder gar die Mutter etwas über den jetzt 30-jährigen Mann berichten würden, was seinen plötzlichen Angriff auf rund 100 Festzugteilnehmer erklären könnte.Einige von ihnen entgingen nur knapp dem Tod. Viele haben bis heute unter den Folgen der Tat zu leiden. Nicht wenige sind immer noch aus ihrem Leben gerissen, müssen im wahrsten Sinne des Wortes wieder Fuß fassen für einen Neuanfang.

Bei einer ersten Vorladung vor Gericht machten Großmutter und Halbschwester von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht als nahe Angehörige Gebrauch. Nun hat das Gericht die Verteidigung aufgerufen, nochmals mit der Mutter des Angeklagten Kontakt aufzunehmen, um diese zu einer Aussage über die Persönlichkeit ihres Sohnes zu bewegen. Nur bis Mittwochvormittag könnte die Aussage noch in das psychiatrische Gutachten einfließen. Doch die Mutter ist unbekannt verzogen und auch telefonisch nicht zu erreichen.