Volkmarsen/Kassel/Brilon. Im Prozess um die Amokfahrt beim Rosenmontagszug 2020 in Volkmarsen haben die Anwälte das Wort: Sie fordern Nachsicht für ihren Mandanten.
Im Prozess um die Amokfahrt von Volkmarsen hat die Verteidigung ihr Plädoyer vorgetragen. Rechtsanwalt Bernd Pfläging und seine Kollegin Susanne Leyhe bezweifelten nicht den von der Staatsanwaltschaft dargelegten Tathergang und verzichteten darauf, eine konkrete Strafe für ihren Mandanten zu beantragen. Der Angeklagte selber verzichtete auf sein Schlusswort und erklärte leise: „Ich habe nichts zu sagen.“
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Dieses Schweigen zog sich durch den ganzen Prozess: Über die gesamten 24 Verhandlungstage der Beweisaufnahme verfolgte der inzwischen 31-jährige Angeklagte die Verhandlung scheinbar gleichmütig und ohne sichtbare Reaktion. So erklärte auch Strafverteidiger Bernd Pfläging in seinem Plädoyer: „Das Warum ist die große Frage, die über dem Verfahren schwebt. Es geschieht nichts ohne Grund. Menschen haben Motive für ihr Tun. Vielleicht Verletzungen in der Vergangenheit. Aber der Strafprozess ist nicht der Ort, an dem man das aufarbeiten muss.“ Der Angeklagte habe das gute Recht zu schweigen. Niemand sei verpflichtet, im Strafprozess an seiner eigenen Verurteilung mitzuwirken, so Rechtsanwalt Pfläging. Deshalb dürfe die Tatsache, dass der Angeklagte sich nicht äußere, nicht in die Waagschale geworfen werden.
Amokfahrt von Volkmarsen: 88 Menschen körperlich verletzt
Zur rechtlichen Bewertung der Taten ihres Mandanten erklärte Rechtsanwältin Susanne Leyhe, bei der Strafzumessung müsse gewertet werden, dass es zum Glück nur beim Versuch der Tötung geblieben sei. Ungeklärt sei ja schließlich die Frage geblieben, warum der silbergraue Mercedes zum Stehen gekommen sei. Denkbar sei auch die Möglichkeit, dass der Angeklagte von sich aus gestoppt habe. Das Aufheulen des Motors und der letzte Ruck des Autos nach vorn hätten auch durch das Handgemenge im Auto ausgelöst worden sein können, so die Verteidigerin.
Außerdem zog die Anwältin das von der Staatsanwaltschaft ins Feld geführte Mordmotiv der niederen Beweggründe in Zweifel. Für die genannten Motive gebe es keinerlei Anhaltspunkte, weder für einen tiefgreifenden Hass auf die Gesellschaft, noch für den Wunsch, einmal im Mittelpunkt stehen zu wollen noch für den angeblichen Drang nach Nervenkitzel.
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Die beiden Rechtsanwälte Bernd Pfläging und Susanne Leyhe, die den Mann verteidigen, der unmittelbar nach dem schrecklichen Ereignis in Volkmarsen am Steuer des Tatfahrzeuges festgenommen wurde, bestreiten nicht die Umstände der Tat, bei der 88 Menschen körperlich verletzt wurden und wahrscheinlich noch einmal genauso viele Zuschauer seelische Verletzungen erlitten, die bis heute andauern.
Amokfahrt von Volkmarsen: Kritik an Boulevardzeitung
Allerdings sei ihr Mandant nicht der von der Staatsanwalt beschriebene Psychopath, der nachts die Straße kehre und tagsüber im Kreis um sein Auto herumlaufe. Der Angeklagte sei ein ganz normaler Mensch mit vielen Facetten. Es höre sich vielleicht komisch an, erklärte Rechtsanwalt Pfläging, aber das Strafverfahren habe auch Auswirkungen auf den Angeklagten gehabt. Sein unverpixeltes Foto sei mit voller Namensnennung sehr schnell von einer großen Boulevardzeitung verbreitet worden.
In der Folge habe er aus Sicherheitsgründen in ein Frankfurter Gefängnis in Einzelhaft verlegt werden müssen. Auch seine Familie in Baden-Württemberg sei massiv von Reportern und Fernsehteams bedrängt worden. Eine Schwester sei daraufhin ins benachbarte Frankreich gezogen. Auch der Angeklagte habe gelitten, so Pfläging.
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Die Staatsanwaltschaft habe seinen Mandanten als einen Psychopathen dargestellt, der als Einzelgänger keinen Umgang mit anderen Menschen pflegen könne. Das sei aber nicht das ganze Bild. Der Angeklagte habe auch andere Facetten, wie seine Nachbarin und eine Krankenschwester angedeutet hätten. Pfläging: „Unser Mandant ist ein ganz normaler Mensch mit ganz normalen Facetten.“
Amokfahrt von Volkmarsen: Anwälte gegen Sicherungsverwahrung
Rechtsanwältin Susanne Leyhe unterstrich, dass ihr Mandant bei den von der psychiatrischen Sachverständigen gesuchten Gesprächen nicht mitgewirkt habe. Daher könnten auch keinerlei Schlussfolgerungen zu seiner Motivation und zu seiner Gefühlswelt getroffen werden. Aus dem Grund seien auch die Argumentationen der Staatsanwaltschaft zum dritten Mordmotiv der niederen Beweggründe durch nichts untermauert. Ebenso lasse sich aus der fehlenden Gesprächsbereitschaft keine Wiederholungsgefahr ableiten, die für eine Sicherungsverwahrung nötig wäre.
Im Mammutprozess um die Amokfahrt von Volkmarsen wird am kommenden Donnerstag, 16. Dezember, um 10 Uhr das Urteil gesprochen. Der Verhandlung ist öffentlich. Sie findet unter Beachtung der Corona-Regeln in der Kasseler Stadthalle statt.
Amokfahrt von Volkmarsen: Staatsanwaltschaft hat lebenslange Haft gefordert
Die Staatsanwaltschaft hatte für den wegen 89-fachen Mordversuchs Angeklagten vor genau einer Woche eine lebenslange Freiheitsstrafe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld beantragt. Außerdem solle das Gericht in seinem Urteil eine spätere Sicherungsverwahrung unter Vorbehalt ankündigen.
Die Staatsanwaltschaft berief sich bei ihrem Strafantrag auch auf das Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Birgit von Hecker, einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie an der Vitos-Klinik für Forensische Psychiatrie in Bad Emstal. Sie hatte zwar keine Gelegenheit, den Angeklagten selber intensiv zu befragen, weil dieser sich jedem tiefer gehenden Gespräch entzogen hat. So musste sich die Gutachterin auf die Schilderungen mehrerer Gefängnis-Psychologen, Krankenhausärzte und Beobachtungen von Menschen aus dem Umfeld des Angeklagten beziehen.
Zeugen schilderten, wie der junge Mann ohne Anlass einem vorbeifahrenden Radfahrer einen Stock in die Speichen seines Fahrrades geschoben hatte. Nachbarn war er dadurch aufgefallen, dass er ganze Nachmittage lang um sein Auto herumgelaufen sei. An manchen Tagen habe er Blitzstarts und abrupte Bremsungen geübt.
Und im September 2019 hatte er einer anderen Nachbarin gegenüber geäußert, sie werde sich noch wundern, denn eines Tages werde er groß in der Zeitung stehen.
Aufgrund dieser und weiterer Feststellungen hatte die Sachverständige dem Angeklagten eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, narzisstischen und schizoiden Zügen bescheinigt. Diese Persönlichkeitsstörung beeinflusse aber nicht die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit des Mannes. Deshalb bestehe auch kein Zweifel an dessen Schuldfähigkeit.
Weil nicht auszuschließen sei, dass der Angeklagte zu einer Wiederholungstat fähig sei, befürwortete die Gutachterin eine Sicherungsverwahrung im Anschluss an eine Haftstrafe. es