Volkmarsen/Kassel. Bei einer Amokfahrt in Volkmarsen lenkt im Februar 2020 ein 29-Jähriger sein Auto in eine Gruppe Karnevalisten. Was sagen Leute, die ihn kennen?

Das persönliche Umfeld des Angeklagten soll im Prozess um die Amokfahrt von Volkmarsen dabei helfen, den Täter und seine möglichen Motive auch nur ansatzweise zu verstehen. Doch auch nach der Anhörung eines früheren Arbeitgebers und Ausbilders, mehreren Supermarkt-Kassierern, zwei Arbeitsvermittlerinnen und einer Gefängnis-Psychologin bleibt der nach wie vor schweigende Angeklagte ein Rätsel.

Regungslos wie eine Sphinx verfolgt er ebenso aufmerksam wie teilnahmslos den Prozessverlauf. Ebenso emotionslos haben ihn die Menschen erlebt, die dem heute 30-jährigen Angeklagten in den vergangenen Jahren in Volkmarsen begegnet sind. So schildert ein Handwerksmeister aus Volkmarsen, bei dem der Angeklagte im September 2010 eine Ausbildung als Elektroinstallateur begonnen hat, warum er diese schon im Februar 2011 vorzeitig abbrechen musste: „Der war anders als andere Lehrlinge. Altgesellen haben ihn als aufmüpfig empfunden und wollten ihn nicht mehr mit auf die Baustellen nehmen.“ Zu Anfang habe er den jungen Mann noch als kreativ empfunden, weil er schon elektrotechnische Vorkenntnisse mitgebracht und eigene Lösungen für Schaltungen entwickelt habe. Dann aber sei er immer häufiger unpünktlich zur Arbeit erschienen, „sodass Termine bei Kunden nicht wahrgenommen werden konnten.“Außerdem sei er sehr ruhig gewesen, habe keinerlei Kontakt zu anderen Kollegen gehabt. Auch bei Feiern oder in Volkmarser Vereinen habe er seinen Auszubildenden nie gesehen, berichtete der Handwerksmeister.

Ein Bild vom Prozessbeginn in Kassel aus dem Mai 2021 nach der Amokfahrt beim Rosenmontag in Volkmarsen.
Ein Bild vom Prozessbeginn in Kassel aus dem Mai 2021 nach der Amokfahrt beim Rosenmontag in Volkmarsen. © Elmar Schulten | Schulten, Elmar

Nach Kündigung mehrfach aufgefallen

Dessen Frau schilderte, wie sie mehrfach versucht habe, mit dem jungen Mann zu reden, ihm eine Brücke zu bauen. Er sei aber sehr verschlossen und immer alleine gewesen. Einmal habe er gesagt, dass er keinen guten Kontakt zu seiner Mutter habe, ohne dies näher zu erläutern. Bei Fahrten durch die Volkmarser Innenstadt sei ihr der junge Mann nach seiner Kündigung mehrfach aufgefallen. Er habe immer an der gleichen Stelle im Steinweg gestanden, schräg gegenüber vom Friseurladen seiner Schwester, mit einem Kaffeebecher in der Hand, und habe mit emotionslosem Blick das Leben in der Stadt verfolgt.

+++ Lesen Sie auch: Wie der HSK auf die Corona-Testregel für Urlauber reagiert

Der Sohn des Handwerker-Ehepaares arbeitet als Schüler schon seit Jahren stundenweise an der Kasse im Rewe-Getränkemarkt. Hier hat er regelmäßig den späteren Amokfahrer bedient. Er habe stets eine Flasche Wodka und eine Schachtel Zigaretten gekauft. Bezahlt habe er immer mit EC-Karte. Und dann habe er großen Wert darauf gelegt, seinen Kassenbon zu erhalten. Kassenbons hat er auch beim Einkauf im Rewe-Lebensmittelmarkt gesammelt. Dort hat er häufig Cappuccino aus der Kühltheke gekauft. Einen Gruß erwidert habe er nie, wie der Marktleiter nach der Tat bei der Polizei zu Protokoll gab: „Das ist der unfreundlichste Kunde, den ich je hatte.“ Nur einmal habe er auf einen freundlichen Gruß geantwortet: „Wenn es Ihnen gut geht, dann geht es mir auch gut“, habe der Angeklagte damals entgegnet. Ansonsten habe er sich meist nur mit Kopfnicken verständigt, Ohrstöpsel getragen und wahrscheinlich Musik gehört.

Das letzte Mal war der Angeklagte übrigens am Morgen des Rosenmontagszuges 2020 im Rewe-Markt und hat dort Pfand eingelöst. Wenige Stunden später raste er mit seinem Auto in die Menschenmenge und verletzte Dutzende Unschuldige.

Alle empfanden ihn als verschlossen

Bei der Agentur für Arbeit trat der Angeklagte 2013, 2014, 2015 und 2019 in Erscheinung. Zwei Arbeitsvermittlerinnen, die den Angeklagten damals betreuten, haben ihn als höflich und freundlich, aber auch zurückhaltend und sehr in sich gekehrt in Erinnerung. Er habe nur berichtet, dass er bei seiner Großmutter wohne, den Führerschein wegen einer Alkoholfahrt verloren habe und eine Kündigungsschutzklage angestrengt habe. Beim Entzug des Führerscheins habe er sich ebenso ungerecht behandelt gefühlt wie bei der Kündigung seines Arbeitsplatzes als Industriemechanikers bei einer Kasseler Firma. Bei einem Beratungsgespräch im Juli 2019 sei ihr zum ersten Mal aufgefallen, dass ihr Kunde am früheren Morgen alkoholisiert gewesen sei, berichtete die Arbeitsvermittlerin. Damals habe er gesagt, er habe sich „etwas gegönnt“.

+++ Lesen Sie auch: Impfpflicht? Das sagen HSK-Politiker über Freiheit und Zwang

Interessant auch die Beobachtung der Gefängnis-Psychologin, die den mutmaßlichen Amokfahrer mehrfach in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt I gesprochen hat, um herauszufinden, ob er als suizidgefährdet einzustufen war oder ob von ihm eine Gefahr für andere ausging. Sie habe eine „schizoide Akzentuierung“ wahrgenommen und eine Persönlichkeitsstörung angenommen. Auf Nachfrage des Gerichts erläuterte die Psychologin: „Er war sehr zurückhaltend, wenig emotional. Er machte keine Angaben zum Tatgeschehen. Nur einmal habe er gesagt, dass es ihm leidtue für die Opfer. Über die Opfer habe er dann aber nicht sprechen wollen. Tiefergehende Gespräche habe er stets abgelehnt. Die Gespräche mit dem Angeklagten seien ihr vorgekommen wie Steine klopfen in einer Grube: „Man muss lange klopfen, bis etwas herauskommt.“ Zur schizoiden Störung passe, dass er sich in der Gefühlsäußerung eher zurückhalte, anderen gegenüber eher misstrauisch sei, sich als Einzelgänger wohlfühle. Psychotische Schübe, Verfolgungswahn oder Halluzinationen habe sie nicht wahrgenommen. Hinweise auf seine Gedankenwelt oder Motivation lasse der Angeklagte nicht zu. Das sei typisch für Menschen mit einer schizoiden Störung. Sie hätten keinen Zugang zu ihrem inneren Erleben und könnten auch nicht zum Ausdruck bringen, wie sie sich fühlten.

Nahe Angehörige schweigen im Zeugenstand

Bereits in der vergangenen Woche sind die Mutter, der Halbbruder und die Halbschwester des Angeklagten der Ladung des Gerichts gefolgt, haben im Zeugenstand Platz genommen, um dann von ihrem gesetzlich verbrieften Aussageverweigerungsrecht für nahe Angehörige Gebrauch zu machen.

Der Prozess um den Amokfahrer von Volkmarsen wird am 29. Juli, um 9 Uhr, im Kulturbahnhof Kassel mit weiteren Zeugenvernehmungen fortgesetzt. Am 5. August wird die Vorlage des umfassenden psychiatrischen Gutachtens erwartet. (WLZ)