Volkmarsen/Kassel. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Amokfahrer vom Rosenmontag in Volkmarsen hat begonnen. Der erste Prozesstag liefert erschütternde Details.
Das war schwere Kost am Montagvormittag: In der Halle 5 der Kasseler Messe hatte Maurice P. seinen ersten Auftritt vor Gericht: es geht um die juristische Aufarbeitung der mutmaßlichen Amokfahrer vom Rosenmontag in Volkmarsen . Begleitet von seinen beiden Verteidigern, Bernd Pfläging und Susanne Leyhe aus Kassel, trat er gegen 9.15 Uhr durch einen schwarzen Vorhang in die riesige Halle. Vor sich trug er einen aufgeschlagenen Aktendeckel, um nicht von rund 20 Kameras der Journalisten eingefangen zu werden. Hinter dem jungen Mann zwei Justizwachtmeister, die für die Dauer des Prozesses auf ihn aufpassen.
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Amokfahrt in Volkmarsen: Angeklagter Maurice P. ist Deutscher
Dann zieht das Gericht ein. Die Sechste Große Strafkammer des Landgerichts ist als Schwurgericht mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt, denn es geht um den Vorwurf des versuchten Mordes. Richter Volker Mütze ist ein erfahrener Richter, gibt den Fotografen noch einen Moment, um ihre Fotos zu machen, bevor sie ihre Kameras beiseite legen müssen. Dann die klare Ansage: „Alle Handys aus. Sollte hier ein Handy klingeln oder benutzt werden, gibt es ein Ordnungsgeld von 250 Euro. Dann werden die Verfahrensbeteiligten abgefragt. Die Staatsanwaltschaft ist mit Oberstaatsanwälten der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt und der Staatsanwaltschaft Kassel vertreten, Vier Nebenkläger, Verletzte vom Rosenmontag, sind mit ihren Rechtsbeiständen vor Ort.
Wann ist der Angeklagte geboren? Am 31. Mai 1990 in Ehrenberg, Bad-Württemberg. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Im Internet wurde seit der Tat am Rosenmontag 2020 immer wieder gehetzt, jemand mit dem Namen Maurice müsse doch Ausländer sein. Nein. ist er nicht.
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Maurice P. ist Deutscher, blond und hat sich in der Untersuchungshaft offenbar einen Bierbauch angefuttert. Er trägt Jeans und einen roten Pullover, die blonden Haare sind zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Der junge Mann wirkt unscheinbar. Mit wachem Blick verfolgt er die Verhandlung. Er will vorerst von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen, sagt sein Anwalt.
Amokfahrt in Volkmarsen: Verlesen der Anklageschrift dauert 90 Minuten
Dann wird die Anklageschrift verlesen. Die Fassung für den Prozessauftakt ist 30 Seiten lang, die für die Akten sogar 172. Das Verlesen der 30 Seiten dauert rund 90 Minuten. Es geht um Mordversuch in 91 Fällen, gefährliche Körperverletzung in 90 Fällen und um gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr. Hierfür könnte im Falle einer Verurteilung auch eine Unterbringung in Sicherheitsverwahrung in Betracht kommen. Darauf macht Richter Mütze aufmerksam, nachdem der Anklagevertreter den Ablauf der Tat geschildert und die Art der Verletzungen bei über 60 Opfern detailliert verlesen hat.
Amokfahrt in Volkmarsen: stark blutende, klaffende Wunden
Es ist die erste schwer zu ertragende Prozessphase an diesem Morgen: Minuziös hat die Staatsanwaltschaft zusammengetragen, wie der silberne Mercedes Kombi mit hoher Geschwindigkeit mitten in die Festzuggruppe „Wilde 13“ hineingerast ist. Den größeren Motivwagen mit der Geburtstagstorte zu Ehren der Kindersendung „Sesamstraße“ hat der Amokfahrer noch verschont, wohl weil er die Fußgruppe dahinter treffen wollte. In einem großen blauen Papiercontainer wurde ein als Krümelmonster Oscar verkleideter junger Mann im Festzug geschoben. Als der Rollcontainer vom Amokfahrer erfasst wird, fliegt der junge Mann durch die Luft. Der Deckel und weitere Metallteile des Containers treffen Zuschauer am Kopf und verursachen stark blutende, klaffende Wunden.
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Amokfahrt in Volkmarsen: Viele der Opfer sind Kinder
Einige Teilnehmer der Wilden 13 können zur Seite springen, verletzen sich dabei leicht, andere werden vom Auto erfasst, fliegen durch die Luft, ziehen sich multiple Verletzungen und Brüche zu. In der Anklageschrift heißt es weiter, der der Amokfahrer kurz abbremst, auf den Bürgersteig lenkt, um noch mehr Menschen zu erfassen. Viele seiner Opfer sind Kinder, die gerade die Hände ihrer Eltern losgelassen haben, um Süßigkeiten aufzuheben. Nacheinander werden mehrere Kinder von der Frontschützes des Autos erfasst und mitgeschleift. Wie durch ein Wunder können sie nach weiteren 20 Metern Amokfahrt fast unversehrt unter dem Auto hervorgezogen werden.
Als der Motor nach mehreren Metern Fahrt halb auf dem Bordstein und halb auf der Fahrbahn schließlich ausgeht, dreht der Mann am Steuer immer wieder am Zündschlüssel, wird aber dabei von einer jungen Zuschauerin gestört, die die Beifahrertür aufgerissen hat und nun nach dem Schlüssel greift. Der Amokfahrer zieht an ihren Haaren. Ein Mann reißt die Fahrertür auf und schlägt dem 30-Jährigen ins Gesicht. Auch über die Rückbank wird Maurice P. jetzt bedrängt. Damit hat seine Autoattacke nach wenigen Sekunden ein Ende. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Motor nicht abgewürgt worden wäre.
Amokfahrt in Volkmarsen: Videofilm zeigt das Grauen
Jetzt schlägt die Stunde der Helfer und Retter: Mehrere starke Männer haben den Mercedes so weit hoch, dass die Kinder daraus hervorkriechen können. Auch am Heck werden Kinder unter dem Wagen hervorgezogen. Die meisten sind mit Schürfwunden davon gekommen. Andere trifft es härter, müssen mit Rettungswagen und Hubschraubern in die Umliegenden Krankenhäuser gebracht werden: Nach Arolsen, Warburg, Kassel, Paderborn, Bielefeld, Schwalmstadt und Marsberg.
Viele Wunden sind inzwischen verheilt, andere müssen noch behandelt werden. sehr viel länger halten die psychischen Folgen an. Viele der Opfer sind traumatisiert, sind in psychiatrischer Behandlung. Ihnen würde es helfen, vom Täter zu erfahren, was seine Antriebsgründe für die sinnlose Autoattacke waren. Alkohol und Drogen scheiden nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft aus. Auch für einen politischen oder gar extremistischen Hintergrund gibt es keinerlei Anhaltspunkte.
Während der Angeklagte weiter schweigt, gibt es einen zeugen, der umso mehr zu sagen hat und der dem Gericht auch noch ein ganz einzigartiges Beweisstück zur Verfügung gestellt hat, seinen Videofilm, entstanden zufälligerweise direkt mit Blickrichtung auf die Spur dem Amokfahrers. Der Amateurfilmer ist Polizeibeamter. In seiner Freizeit dreht er Videofilme und fotografiert Ereignisse in der Region. Sehr häufig sind es Festzüge, die er auf seiner Internetseite präsentiert. Seit Jahren schon filmt er den Rosenmontagszug seiner Wahlheimat Volkmarsen. Wie immer hat er auch am Rosenmontag 2020 sein Kamerastativ auf der Verkehrsinsel vor der Apotheke im Steinweg aufgestellt. Mit einer Fotokamera steht er nicht weit davon und fotografiert die Festzugteilnehmer.
Amokfahrt in Volkmarsen: Polizist sagt als erster Zeuge aus
Als erster Zeuge im Prozess gegen den Amokfahrer von Volkmarsen schildert der 59-jährige Polizeibeamte dem Gericht, dass er sich für den Rosenmontagszug extra dienstfrei genommen habe. Als erfahrener zeuge hat er am Tag nach der Tat eine Gedächtnisskizze über all seine Beobachtungen angefertigt. So kann er genau beschreiben, wo die Sprinter-Fahrzeuge der Stadt die Kreuzung blockierten, wo die Streifenwagen parkten. Der Lärm von einem aufheulenden Motor und quietschende Reifen haben die Videofilmer auf das Fahrzeug aufmerksam gemacht, dass sich von hinten näherte. „Mit einem Affenzahn und immer noch beschleunigend sei der leistungsstarke Daimler auf ihn zugerast“, erinnerte sich der Polizeibeamte. Geistesgegenwärtig sei er auf die Verkehrsinsel gesprungen. Da sei der Wagen etwa in einem Abstand von doppelter Armlänge an ihm vorbeigerauscht. Dann habe er seine Kamera hochgerissen und habe eine Reihe von Serienaufnahmen gemacht. Doch dann sei nichts mehr zu erkennen gewesen vor lauter „hochfliegenden Körpern“. Wie er das denn meine, fragt der Richter. Ja, aus der Menschenmenge seien nacheinander mehrere Körper hochgeflogen, nach rechts, links und nach oben.
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Daraufhin habe er seine Kameras im Auto verstaut, den Polizeiführer vom Dienst in Kassel über die Lage und über sein Beweisvideo informiert. Danach habe er geholfen, Verletzte zu versorgen. Was er denn beim Anblick des vorbeirauschenden Autos gedacht habe?, fragte der Richter. Darauf der Zeuge: „Na, wie spinnt der denn?“ Ob der denn zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt habe, dass es sich bei dem Geschehen um einen Unfall gehandelt habe, wollte der Richter weiter wissen? Zeuge: „Nein, das hatte ich nicht. Es hätte viele Gelegenheiten gegeben, eine Vollbremsung zu machen, wenn es sich bloß um einen Fahrfehler gehandelt hätte.“ Im Gegenteil sei die Fahrtrichtung des Wagens mehrfach so korrigiert worden, dass nicht die Hauswand der Gaststätte „Jägerhof“, sondern die Menschenmenge getroffen wurden. Unmittelbar nach der Tat habe er als erfahrene Polizist das Tempo des Amokfahrers auf 70 bis 80 Stundenkilometer geschätzt.
Amokfahrt in Volkmarsen: im Saal blicken die Menschen verstört nach unten
Und dann wird es still in der Messehalle: Der entscheidende Ausschnitt des Videofilms vom Rosenmontag wird gezeigt. Es sind nur wenige Sekunden, doch sie zeigen, mit welchem Tempo und mit welcher Wucht der silberne Mercedes in die Festzugteilnehmer hinein steuert. Danach ist nur noch Panik und Entsetzen. Auch im Saal blicken die Menschen verstört nach unten. Wie er denn das Erlebte weggesteckt habe, wird der Videofilmer von der Staatsanwältin gefragt. Als Polizeibeamter sei er schon etwas hart gesottener, sagt er. Er habe mehrere Tage schlecht geschlafen und sei beim Anblick von silberfarbenen Mercedes Kombis zusammengezuckt. Er habe sich aber nicht in die Opferliste eintragen lassen und das Geschehen für sich allein verarbeitet.
Die Verhandlung wird unterbrochen. Fortsetzung ist am Mittwoch, 5. Mai, um 9 Uhr in der Messehalle 5 in Kassel. )