Brilon. Propst Reinhard Richter aus Brilon stellt sich unbequemen Fragen zur Kirche. Ein Interview mit persönlichen Einblicken und unerwarteten Antworten

Propst Dr. Reinhard Richter klettert auf das Gerüst an der Propsteikirchein Brilon. Auf die erste Stufe, für das Pressefoto. Er ruft nach oben, dem Handwerker zu: „Jetzt aufpassen, wir machen eben ein Foto. Nicht, dass mir etwas auf den Kopf fällt.“ Der Mann gluckst. Ein paar freundliche Worte wechseln sie noch. Dann schaut Propst Reinhard Richter in die Kameralinse. Lächelt. Sagt: „Ich mag es ja, Fotos mit einem Hintergrund zu machen. Ich meine, ein Gerüst an der Kirche zeigt doch genau, welche Aufgabe ich jetzt als Propst zu bewältigen habe.“ Er bezieht sich auf die Krise, in der die Kirche steckt. Die Kirchenaustritte werden auch im Hochsauerlandkreis immer mehr. Die mediale Berichterstattung über die Fälle des sexuellen Missbrauchs durch Priester sorgt für einen Vertrauensverlust in die Kirche. Auch, weil einzelne Akteure wie Kardinal Woelki sich einer Aufklärung entgegenstellen. Dazu kommen die Vorwürfe, die Kirche zeige sich Frauen und Homosexuellen nicht aufgeschlossen genug.

Propst Reinhard Richter setzt sich in seinen Stuhl in seinem Büro. Frischer Cappuccino dampft vor ihm. Er will über die Krise reden. Offen, ehrlich – auch über die unbequemen Themen. Er zieht zwei Grafiken heran. „In Brilon hat es in ersten Halbjahr vergangenen Jahres 28 Kirchenaustritte gegeben. Im ungefähr gleiche Zeitraum in diesem Jahr waren es 58“, erklärt er.

Glauben Sie, das liegt an dem Missbrauchsskandal und der Berichterstattung aus den letzten Wochen?

Propst Dr. Reinhard Richter: Nein, das wäre zu kurz gedacht. Alles ist komplexer und lässt einfache Antworten kaum noch zu. Schuldige sind schnell ausgemacht und erklären die Missstände. Doch so ist es nicht. Die Berichterstattung rund um Kardinal Woelki macht mir das bewusst. Die Krisenmeldungen der letzten Jahre sind ja nicht neu und bringen eine Vielfalt von Problemen zum Ausdruck, nicht nur in der weltweiten Kirche. Kardinal Woelki wird immer mehr zu einem Symbol dieser Krise, doch das ist nicht alles. Die Krise steckt viel tiefer.

Wie bewerten Sie das Vorgehen von Kardinal Woelki und die Kritik an seiner Person?

Auch wenn der Kardinal ein ganz dickes Fell haben sollte, bleibt doch die Frage, wie will er als Hirte seelsorglich im anvertrauten Erzbistum wirken? Auch Bischöfe brauchen die Unterstützung der Gemeinden vor Ort, der Mitbrüder und der Anvertrauten. Köln war in der Vergangenheit stets ein besonderes Feld, doch was jetzt dort passiert steht quer zum Jesuswort ‚Ihr sollt alle eins sein!‘ Hier geschehen auch ideologisierte Abrechnungen, die weit zurückreichen, und wie eine Krake im System wirken. Schrecklich, oder?

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Wie spürbar ist für Sie diese Zerrissenheit?

Eine sehr gute Frage: Existenziell und auch körperlich!

Ein Gespräch in zwei Teilen

Propst Dr. Reinhard Richter spricht in einem langen Interview nicht nur über die Missbrauchs-Skandale, die die Kirche erschüttert haben, sondern auch über seine Einstellung zur Segnung von homosexuellen Ehen oder die Weihe von Frauen zu Priesterinnen.

Der nächste Teil des Interviews erscheint am Freitag, 2. Juli, auf www.wp.de/brilon.

Die gewohnten Sicherheiten schwinden und ich fühle mich an die Normalzeit der Kirche in ihrer Geschichte erinnert. Welche Sicherheiten hatten die Apostel und Jünger des Herrn? Die Austritte aus der sichtbaren Gemeinschaft und Institution der Kirche in Deutschland sind sicher ein Zeichen dieser Zerrissenheit. Doch die Gründe sind sehr vielfältig. Nicht alle treten wegen der Kirchensteuer aus. Viele holen einen langen inneren Auszug aus der Kirche nach. Manche privatisieren den Glauben. Allein an den Reformforderungen kann es ja auch nicht liegen, da es genügend kirchliche Gemeinschaften gibt, die all das im Programm haben, was heute unter dem Mantel der Reform gefordert werden. Die evangelische Welt zum Beispiel hat vielfach all das, was laut gefordert wird. Und wenn man sich über den Pastor ärgert, denke ich an ein Wort, dass man Vater und Mutter ja auch nicht aussuchen kann. Wie kann man einem schwierigen Pastor helfen? Durch Austritt?

Und die Kirchensteuer?

Die Kirchensteuer ist ein Model der Kirchenfinanzierung in Deutschland. Historisch gewachsen und veränderbar. Wer wegen der Kirchensteuer austritt, hat seine Gründe. Gesellschaftlich hat das Konsequenzen, auch für die Kirche. Es geht dann alles nicht mehr so wie vor 25 Jahren. Wie wird sich eine überschaubare Kirchenlandschaft dann finanzieren? Die Kirche ist ein Sozialfonds und wenn das nicht mehr verstanden wird, wie kann die Kirche dann weiter gesellschaftliche Aufgaben mittragen? Umgekehrt trägt der Staat die Kirche finanziell auch mit. Wir müssen uns also fragen, worauf wir uns als Kirche noch konzentrieren wollen. Wollen wir, wie in den 70ern, alle Bereiche abdecken oder schauen wir in Zukunft genauer hin und klären für uns im Sinne des Zukunftspapiers unseres Erzbistums: Wozu bist du da, Kirche in Brilon?

Das bedeutet im Umkehrschluss, die Kirche wird in Zukunft kleiner?

Corona und die schrecklichen Missbrauchsfälle haben gezeigt, dass es längst überfällig ist, sich neu auszurichten.

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Viele Menschen fragen sich, wann sie die Kirche für sich brauchen. Für die Taufe, die Hochzeit oder die Beerdigung. Die Kirche hat nicht mehr über alles die Deutungshoheit und man sollte nicht mehr von der Omnipotenz träumen, wie man sie früher hatte. Es gibt nun Bereiche, die nicht mehr von der Kirche besetzt werden und da fehlt den Menschen die Kirche auch nicht. Die Kirche wird in Deutschland in Sichtbarkeit und gesellschaftlichem Einfluss kleiner und bescheidener werden müssen. Wesentlicher, im Sinne Jesu!

Sie sprechen noch einmal die Missbrauchsfälle in der Kirche an, die in der Vergangenheit immer mehr an die Öffentlichkeit gekommen sind. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

Diese Missbräuche sind beschämend. Beschämend.


Propst Dr. Reinhard Richter macht eine Pause. Stille.

Ich schäme mich. Und ich sehe die unterstellenden Blicke. Ein unverkrampfter Umgang mit Kindern ist nicht mehr möglich. Unverdorbene Nähe zu Kindern ist nicht mehr möglich. Wir Priester und Diakone in Brilon haben ein Präventionspapier mit unserer Gemeindereferentin Frau Stock und einigen Frauen aus der Gemeinde erarbeitet, das uns auferlegt, wie wir uns verhalten müssen. Das ist verpflichtend. Eine Kinder- und Jugendarbeit vergangener Zeiten ist kaum noch möglich. Welcher Jugendvikar will sich ständig irgendwelchen Vorwürfen ausgesetzt wissen? Ich würde mir wünschen, dass wir mehr über dieses Thema in Kirche und Gesellschaft, in Familien und Vereinen, in Schulen Internaten reden, damit das Bewusstsein zum Schutz von Kindern und Jugendlichen gestärkt wird. Die Kirche jedoch wird daran sehr lange zu tragen haben und vergessen wir die Opfer nicht, die hier entsetzliche Wunden an Leib und Seele tragen. Bischöfe und Priester werden es in deutschen Talkshows nicht leicht haben!

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Ärgert es Sie, dass durch diese einzelnen Akteure die Kirche kollektiv von den Menschen mit einem Vertrauensentzug bestraft wird?

Ja! Kirche ist ein Heilszeichen, auch in ihrer Schwäche. Durch die Kirche wird der Weg zu Christus begleitet. Viele von uns sind so erzogen worden, dass es unser oberstes Ziel ist, Jesus und seine Kirche nicht zu verletzen. Das kann mit ein Grund dafür sein, dass vieles zugedeckt und verschwiegen wurde, was jetzt ans Tageslicht gekommen ist. Die „Welt“ ist „böse“ und sie darf nicht wissen, was es in der Kirche an Dunkelheiten gibt. Die Sünde ist das, was in der Dunkelheit bleiben soll. Die Wahrheit sucht das Licht. Jeder sensible Mensch weiß davon. Hier anzusetzen, kann Vertrauen wecken.

Woher kommt der Missbrauch?

Woher kommt das? Ich bin kein Fachmann für dieses Phänomen. Ich frage mich sehr oft selber danach. Missbrauch liegt nicht am Zölibat, denn Täter gibt es auch in der Evangelischen Kirche, in Vereinen und Familien. Gibt es im Menschen eine sexualisierte Macht, die sich der Schwächsten bedient? Und dabei denke ich nicht nur an Kinder und Jugendliche. Missbrauch an Bejahrten und Kranken in Heimen und Krankenhäusern, an Frauen und Männern in Gefängnissen und Kasernen, was ist mit den Frauen und Männern, die Opfer einer „Sexindustrie“ geworden sind? Ich will die Reihe nicht fortsetzen, sonst wirft man mir vor, dass ich von der Verantwortung der Kirche ablenken wolle. Ich will den Schutz der Schwächsten, aber ich will auch den Schutz für alle. Wir töten nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Strukturen können so vergiftet sein, dass man nicht atmen kann. Auch in der Kirche. Ich habe mit einzelnen Priestern gesprochen, die unter dem Verdacht des Missbrauchs stehen.


Propst Dr. Reinhard Richter macht eine Pause. Nickt.

Ich habe im Zuhören begleitet. Ich habe sie mit tiefer Scham beobachtet und ich frage mich, woher dieses Phänomen kommt? Ich habe keine Erklärung dafür.

Sie sprechen über vergiftete Strukturen, in denen die Täter sich an niemanden wenden können. Ist es also ein Problem der Kirche, dass ihre Mitglieder sich nicht offen an jemanden wenden können, um über ihre Probleme zu sprechen?

Das ist nicht nur ein kirchliches Problem. Etwas einfach gesprochen: An wen wendet sich ein Mensch, der so empfindet, wie er nicht empfinden darf? Ich habe dieses Problem auch mit meinen Vorgesetzten besprochen. Früher hatte zum Beispiel jeder Priester einen Beichtvater, der klug, geistlich und verschwiegen als Seelenführer im Kontext von Bekenntnis, Vergebung, Wiedergutmachung und Barmherzigkeit wirkt. Unser Erzbistum hat sehr viel investiert, dass uns heute geschulte Frauen und Männer in wichtigen Fragen des Lebens begleiten. Die Diözesen investieren, um ihre Seelsorger aufzufangen. Das ist ein Lernprozess! Heute muss man aber lange suchen, um geeignete und geschulte Beichtväter zu finden.