Stuttgart. Spanien war in den letzten Jahren stets Vorbild für den deutschen Fußball. Das führt vor dem EM-Viertelfinale zu forschen Stimmen.

Vor vier Jahren servierte Spanien den Deutschen in der Nations League ein 6:0. Nur einmal, 110 Jahre zuvor, hatte der viermalige Weltmeister ein Länderspiel höher verloren. „Wir haben sie in allen Facetten des Spiels dominiert: taktisch, physisch, mental“, kommentierte Stratege Rodri, der auf seiner Position vor der Abwehr eine Glanzleistung ablieferte – wie auch bisher bei dieser EM. Heute (18 Uhr/ARD) wird er im EM-Viertelfinale zwischen den beiden Rivalen in der Schaltzentrale wie damals auf Toni Kroos und Ilkay Gündogan treffen.

EM 2024: Weltmeister-Trainer Del Bosque sieht Spanien schon als Europameister

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Zu sagen, von dem Spiel würde in Spanien eine ähnliche Gala erwartet wie einst in Sevilla, wäre übertrieben. Aber der „Deutschland-Komplex“, den ein 73-Jähriger wie Vicente del Bosque noch aus seinen Spielerzeiten kennt, ist längst verdampft. Seit 1988 ist Spanien an Turnierendrunden gegen Deutschland ungeschlagen, und der Weltmeister-Trainer von 2010 wurde dieser Tage mit so siegesgewissen Aussagen zitiert, wie er sie während seiner eigenen Ära auf der Bank stets tunlichst vermied. „Spanien spielt schneller – und mit höherem Rhythmus als Deutschland. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir weiterkommen“, sagte Del Bosque. „Es fällt mir schwer, zwei Spieler zu nennen, die in der spanischen Elf spielen könnten“. Das gelte nicht nur für den aktuellen Gegner, sondern allgemein. „(Der Deutsche Jamal) Musiala, (der Engländer Bukayo) Saka – viele gibt es nicht.“

Die kessen Töne haben durchaus offiziösen Charakter: Del Bosque leitet derzeit eine von der spanischen Regierung eingesetzte Kommission, die den korruptionsgeplagten Verband und insbesondere den amtierenden Präsidenten Pedro Rocha überwachen soll. Vor zwei Wochen beantragte Spaniens Sportgerichtshof TAD eine Ämtersperre von sechs Jahren für Rocha und gab ihm zu seiner Verteidigung eine Frist bis zu diesem Freitag. Rocha erwirkte jedoch einen Aufschub und wird daher auch in einem möglichen Finale neben König Felipe sitzen können wie bereits im Gruppenspiel gegen Italien. Unterstützt von Fifa und Uefa klammert sich der 70-Jährige weiter ans Amt.

EM 2024: Spanien eilt ohne Nebengeräusche von Sieg zu Sieg

Nicht, dass das in der Heimat derzeit groß interessieren würde. Wo vor dem Turnier noch Konfliktpotential befürchtet wurde, haben die teils grandiosen EM-Darbietungen der Selección alle Nebengeräusche beseitigt. Und wo Nationaltrainer Luis de la Fuente vor dem Turnier noch viel Skepsis erntete, als er behauptete, er sehe kein besseres Team als Spanien, schlagen die Medien mittlerweile begeistert in dieselbe Kerbe. „Deutschland erzittere“, postulierten die beiden großen Sportzeitungen As und Marca zu Wochenbeginn wortgleich, als das Viertelfinalduell feststand.

Die Präpotenz hat Substanz, wer wollte es leugnen. De la Fuente hat der Mannschaft einen offensiven Furor verpasst, wie man ihn zuletzt beim EM-Titel 2008 unter Luis Aragonés erlebte. Das Spanien dieser EM zeigt Tiki-Taka – das klassische Kurzpassspiel – in der forschesten Version; weniger sicherheitsorientiert als etwa unter Del Bosque, der im Mittelfeld mit einer landesuntypischen Doppel-Sechs operierte und die Gegner über langen Ballbesitz hypnotisieren ließ. 2024 gibt es dagegen sogar Spiele und Momente, da scheint Spanien das Tiki-Taka abgeschafft zu haben.

EM 2024: Letztmals 2014 weniger Ballbesitz als der Gegner

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Beim 3:0-Auftaktsieg gegen Kroatien reüssierte man über schnelle Konter und hatte erstmals seit 111 Länderspielen weniger Ballbesitz als der Gegner – der damals, im November 2014, interessanterweise Deutschland hieß. Kroos markierte in Vigo das einzige Tor für den frischgebackenen Weltmeister, der seine Adaption des bewunderten spanischen Spielstils an jenem Abend kulminierte. Heute steht, insbesondere zwischen Kroos und Rodri, wieder ein faszinierendes Mikroduell um Ballbesitz und damit Spielkontrolle zu erwarten. Aber Spanien weiß anders als in der vergangenen Dekade der Misserfolge, dass es jetzt auch einen Plan B hat. Dank der diabolischen Flügelzange aus Nico Williams, 21, und Lamine Yamal, 16, ist es kaum auszurechnen.

In den üblichen Debattenbeiträgen von Gurus und Ex-Gurus, die ein großes Spiel nun mal ausmachen, erklärte der deutsche Ex-Torwart Jens Lehmann für „zu klein“ und „sehr unerfahren, eigentlich eine Jugendmannschaft“. Der in der Tat sehr junge, aber im letzten Jahr um zehn Zentimeter gewachsene Lamine antwortete darauf: „Wir werden auf dem Platz sehen, ob wir klein und unschuldig sind.“ Nicht nur Deutschland, auch Spanien spielt in Stuttgart gegen die Geschichte: Bei neun Versuchen an internationalen Endrunden hat es noch nie einen Gastgeber geschlagen.

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