Köln. Zwei Tore genügen England, um als Gruppensieger ins EM-Achtelfinale einzuziehen. Die Kritik am Southgate-Team ist groß.
Schneid hatte Gareth Southgate. An einem Abend, an dem für Englands Nationalmannschaft fast nichts funktioniert hatte, nach einem fürchterlichen 0:0 gegen Slowenien, wagte Southgate einen Spaziergang in die englische Kurve. Viel Gegenliebe bekam der 53 Jahre alte Trainer nicht. Sondern laute Buh-Rufe. Auf ihn konzentriert sich die Kritik an der Leistung der Three Lions - dass sie als Gruppensieger ins Achtelfinale eingezogen sind, gehört zu den Ungerechtigkeiten dieser Europameisterschaft.
+++ EM-Kommentar: Hohn und Spott für England kommt viel zu früh +++
Englische Fans werfen Bierbecher auf Trainer Gareth Southgate
1:0 gegen Serbien, 1:1 gegen Dänemark, ein Torlos-Langweiler gegen die Nummer 57 der Welt, wenig klare Torchancen - das störte die englischen Fans so sehr, dass sie in Köln sogar Bierbecher auf Southgate warfen. „Ich verstehe das“, sagte er nach dem Spiel. „Besser es trifft mich als dass es die Mannschaft trifft. Aber trotzdem schafft dies eine ungewöhnliche Umgebung. Ich habe noch keine andere Mannschaft erlebt, die sich qualifiziert und ähnlich behandelt wurde. Ich werde davor aber nicht zurückschrecken“, sagte der Trainer. „Bier, Spott und Tränen“, titelte in England die Boulevardzeitung Sun bissig. Dass Southgate nach dem Turnier weitermachen darf, gilt auf der Insel als ausgeschlossen. Die Öffentlichkeit, die Alt-Internationalen, die Fans - es gibt außerhalb der Mannschaft kaum noch jemanden, der auf der Seite des Trainers steht.
Trotz der herausragenden Einzelspieler fehlt England ein Konzept, um das gegnerische Tor in Gefahr zu bringen. Nur selten lässt Southgate seine Mannschaft den Gegner, so schwach er auch sein mag, früh attackieren. Und im eigenen Ballbesitz gibt es Quer- und Rückpässe. Individuelle Qualität mal elf ergibt keine Mannschaft, schon gar nicht, wenn keine Strategie erarbeitet wurde. Bestes Spiel dafür ist die Offensive: Die Mannschaft hat hervorragende Flügelspieler - Phil Foden (Manchester City) und Bukayo Saka (FC Arsenal) sind führend in Europa. Harry Kane wurde Torschützenkönig in Deutschland. Jude Bellingham spielte eine herausragende Saison für Real Madrid, gewann die Champions League.
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Und am Dienstagabend? Bellingham war ein Beispiel für die Arroganz und den Egiosmus, der die Spieler umgibt. Der ehemalige Dortmunder schnürte während der slowenischen Nationalhymne seine Schuhe, warf ein Kaugummi auf den Rasen. Und das war seine auffälligste Szene. Auf dem Rasen? Kein Torschuss, kein Chance kreiert, die meisten Ballverluste seiner Mannschaft verursacht. Ein Star der EM sollte Bellingham werden, fast jeder wettete darauf. Seitdem er gegen Serbien das Goldene Tor erzielte, steht der 20-Jährige neben sich.
Southgate setzt die Top-Talente erst spät ein
Von Kapitän Kane war nur eine Floskel zu hören: „Ich denke an die früheren Turniere. Da haben wir unseren besten Fußball auch oft erst in der K.-o.-Phase gespielt.“ Ersatz hätte Southgate auf der Bank, doch die besonders begabten Offensivspieler Anthony Gordon (Newcastle United) und Cole Palmer (FC Chelsea) bekommen nur Kurzeinsätze. Warum? Ein Geheimnis von Southgate. Immerhin deutet sich an, dass die 270 Vorrunden-Minuten bei ihm für ein Umdenken sorgen könnten. Nachdem er Gordon und Palmer eingewechselt hatte, wurde das englische Spiel gegen Slowenien wenigstens ein bisschen besser. „Wie sie zusammengespielt haben, da waren ein paar feine Spielzüge dabei. Sie kriegen ihre Spielanteile“, sagte Southgate.
„Wir haben dafür gesorgt, dass es wieder Spaß macht, uns zuzusehen.“
Doch was ist die Ursache für den tiefen Fall des englischen Fußballs. Southgate vermutet ihn in der jüngeren Vergangenheit. Southgate hatte übernommen, nachdem die Engländer bei der EM 2016 im Achtelfinale mit 1:2 gegen Außenseiter Island verloren hatten. Southgate baute das Team um, verjüngte es - und schon bei der WM 2018 erreichte sie das Halbfinale. Erst in der Verlängerung kam gegen Kroatien das Aus (1:2). Es folgten der Final-Einzug bei der EM 2021, als England erst im Elfmeterschießen Italien unterlag - und das im heimischen Wembleystadion. Alle Qualifikationen überstand England locker. Das habe die Erwartungshaltung erhöht. „Wir haben erst dafür gesorgt, dass es wieder Spaß macht, uns zuzusehen“, sagte Southgate.
England spielt am Sonntag in Gelsenkirchen
Es spricht aktuell nichts dafür, dass England das Achtelfinale am Sonntag (18 Uhr) in Gelsenkirchen übersteht. Oder doch? Auf die Mitfavoriten Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal könnte England spätestens im Finale treffen. Und das ewige Versprechen dieses Turniers wiederholte Verteidiger Kieran Trippier in Köln: „Die Tore werden kommen.“ England als Turniermannschaft, die sich in der K.-o.-Runde steigert? Das wäre die verrückteste Wendung dieser EM.