Hagen.. Gescheiterte Helden, Realitätsflucht und das Rad der Fortuna. Bei dieser Europameisterschaft geht es zu wie im Märchen. Eine Analyse.

Ohne Verlierer keine Sieger. So einfach ist das. Wenn zwei gleich begabte Kandidaten um eine unteilbare Sache kämpfen, einen Fußballpokal zum Beispiel, kann der Eine nur gewinnen, weil der Andere eben nicht gewinnt. Erfolg und Scheitern hängen voneinander ab. Aus kultureller Sicht ist das Versagen übrigens spannender als das Gewinnen. Theaterstücke, Opern, Romane und Märchen erzählen die Heldenreise von Protagonisten, die etwas nicht schaffen, obwohl sie es sich so sehr wünschen. Gilt das auch für den Fußball?

Bei der Europameisterschaft 2024 sind in kultureller Hinsicht mehrere Aspekte bemerkenswert. Da ist zum einen die latent aggressive symbolische Überhöhung des Spiels in einen teils imaginierten politisch nationalen Raum hinein. Die Nationalmannschaften und ihre Siege müssen die nationalen Sehnsüchte und Phantasien von mitunter extremen Befindlichkeiten bedienen. Sollten die Turniere in Russland und Katar noch Regimes aufwerten, die wegen der Verletzung von Menschenrechten in der Kritik stehen, so wurde die Fußball-EM 2024 auch zum Versuch einer Landnahme wiedererstarkter reaktionärer Ideen, wie die unsägliche Debatte um die Hautfarben der deutschen Spieler beweist.

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Der türkische Fußballer Merih Demiral hat mit seinem Wolfsgruß einer ultrarechten Vereinnahmung des Turniers durch die türkischen Grauen Wölfe den Weg geöffnet. Und er hat Europa vor Augen geführt, dass es nicht nur biodeutsche Rechtsextreme in Deutschland gibt, sondern auch türkische. Es steht zu befürchten, dass sich diese Versuche künftig häufen. Mit Sportsgeist hat das nicht mehr viel zu tun, eher mit dem Trojanischen Pferd, bei dem Fußball zur Echokammer für etwas ganz Unsportliches wird. In dieses Kapitel fällt auch die absurde Diskussion, ob es politisch korrekt sei, die deutschen Nationalfarben in Fußballlaune allenthalben zu zeigen. Natürlich muss man sie zeigen. Sie stehen doch für bedrohte Werte: Einigkeit und Recht und Freiheit.

Was hingegen die Niederlage der deutschen Elf im Viertelfinale betrifft, musste man in den vergangenen Tagen eher den Eindruck von Realitätsflucht gewinnen. Sie haben verloren. Aber selten ist eine Niederlage so hymnisch gefeiert worden. Die deutsche Mannschaft wird behandelt wie ein Sieger, selbst der Bundeskanzler, anders als seine Vorgängerin durchaus nicht fußballaffin, lobte die „tolle Leistung“ des Verliererteams: „Und das ist auch ein Zeichen dafür, was wir so können in Deutschland.“ Ja, was können wir denn, bitte schön? Ausscheiden? Und zwar nicht als Zweiter, sondern im Mittelfeld?

Fußball: EM, Pressekonferenz nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft, Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft mit den Tränen bei der Abschluss-Pressekonferenz. +++ dpa-Bildfunk +++

„Wir müssen zurück zur Gemeinsamkeit kommen. “

Julian Nagelsmann

Umgekehrt hielt der Bundestrainer nach der Niederlage eine Ruckrede an die Nation, die den Landesvätern ebenfalls gut anstehen würde. „Wir müssen zurück zur Gemeinsamkeit kommen. Uns muss es gelingen, diese unfassbare Individualität zu überwinden und wieder eine geschlossene Gruppe zu werden“, predigte er. Also der Bundestrainer. Nicht der Bundeskanzler. Und nicht in Richtung seiner Elf, sondern adressiert an das Team Deutschland, die Nationalmannschaft, in der wir alle mitspielen.

Die Mär vom gestohlenen Sieg

Zur Realitätsflucht gehört auch die beliebte Erzählung vom gestohlenen Sieg. Donald Trump ist bekanntlich ein Meister dieses Genres und scheute sich nicht, im Sinne seiner persönlichen Wahrheit einen gewalttätigen Mob auf den Kongress der Vereinigten Staaten zu hetzen. Flugs nach dem verlorenen deutschen Viertelfinale wurde vom Team Internet ebenfalls ein gestohlener Sieg diagnostiziert, der Schiedsrichter und seine Entscheidung gegen ein Handspiel als Schuldiger für die deutsche Niederlage ausgemacht. Es gibt eine Internetpetition, die fordert, das Spiel zu wiederholen, um ein gerechtes Ergebnis herzustellen. Sie hatte am 12. Juli um 11.09 Uhr bereits 432.914 Unterzeichner. Im Digitalzeitalter ist das Publikum eben nicht mehr nur Zuschauer, sondern auch Akteur und gewohnt, mit Masse, Druck und Lautstärke seinen Willen durchzusetzen.

Mit riesiger Freude schwenken Deutschland-Fans beim Public Viewing  ihre Fahnen.  Doch andere Kreise versuchen, das Fußballfest als Echokammer rechtsradikaler Parolen zu instrumentalisieren.
Mit riesiger Freude schwenken Deutschland-Fans beim Public Viewing ihre Fahnen. Doch andere Kreise versuchen, das Fußballfest als Echokammer rechtsradikaler Parolen zu instrumentalisieren. © DPA Images | Arno Burgi

Die Fußballfans sollten sich nur nicht zu sehr in Selbstgerechtigkeit angesichts der Elfmeter-Ungerechtigkeit suhlen. Sind sie doch selbst in hohem Maß ungerecht. Welche Heldentat besteht darin, Spaniens Marc Cucurella bei jeder Ballberührung auszupfeifen? Das ist der Mann, der den deutschen Ball an die Hand bekam. Versehentlich.

Spiegelt die gestörte Akzeptanz von Spielregeln ebenfalls gesellschaftliche Befindlichkeiten unserer Zeit? Zum Beispiel das Zerbrechen der Diskussionskultur, bei der es nicht mehr um den Austausch von qualifizierten Argumenten geht, sondern um das unbedingte Rechthaben, also Siegen – zuerst praktiziert bei den Corona-Aufmärschen der Impfgegner und inzwischen dank Team Internet und Team Desinformation pandemisch verbreitet. Umstrittene Kampfrichter-Urteile gibt es, seit die ersten Athleten in der Antike über den Sand griechischer Arenen rannten. Kaiser Nero wurde bei den Olympischen Spielen im Jahr 67 zum Sieger des Wagenrennens erklärt, obwohl er stürzte und das Ziel gar nicht erreichte. Wer die EM 2024 aufmerksam beobachtet, könnte zu der Schlussfolgerung kommen, dass die digitale Öffentlichkeit immer weniger bereit ist, Schiedsrichter-Entscheidungen zu akzeptieren: Ein gewisser Ermessensspielraum bleibt trotz aller Technik, und der wird zwangsläufig zum Glücksrad eines durch und durch vermessenen Leistungssports.

Das Glücksrad der Fortuna

Ist Zufall ein Aspekt des Sieges? Landläufig nein. Spricht man doch vom „verdienten“ Sieg, der mit Leistung „errungen“ wurde. Darin spiegelt sich das kulturelle Muster der protestantischen Arbeitsethik wider. „Ohne Fleiß kein Preis“ oder auch „Das Glück ist mit den Tüchtigen.“

Tatsächlich aber ist ein Sieg in einem Zweikampf immer das Ergebnis mehrerer Faktoren. Die Leistung muss stimmen, doch bei Fußballturnieren auf dem Niveau eines EM-K.o.-Spiels darf man davon ausgehen, dass die beteiligten Teams auf einem vergleichbar hohen Niveau Leistung erbringen. Daher entscheiden letztlich leistungsunabhängige Faktoren wie Zufall, Momentum, Fügung oder Glück.

„Das Glück ist mit den Tüchtigen“ ist übrigens ein lateinischer Spruch, der in Wahrheit eher das Gegenteil meint. Fortes fortuna adiuvat.. Übersetzt bedeutet er wörtlich: „Den Tüchtigen hilft das Glück“. Das Glück ist keine abstrakte Sache, sondern eine Personifikation, Fortuna, die Göttin, die das Glücks- oder Schicksalsrad in Händen hält, das sich ohne Ansehen der Person dreht. Mal ist man oben, mal unten, ob Kaiser, Narr oder Fußballstar, es trifft alle gleich.

Im Mittelalter war die Unberechenbarkeit des Glücksrades jedem gegenwärtig. Daher wurde der Bettler sozial fast genauso geachtet wie der Edelmann, weil jeder Edelmann wusste, dass Fortuna ihn schon morgen zum Bettler machen könnte. Im Märchen spielt Ungerechtigkeit eine wichtige Rolle, aus pädagogischen Gründen, um Kinder darauf vorzubereiten, dass es im Leben nicht immer fair zugeht. Der bürgerliche Leistungsgedanke, der aus der protestantischen Arbeitsethik herrührt, akzeptiert das Glücksrad allerdings nicht, er hält es lieber mit Goethes „Faust“: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

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Sieger und Besiegte kommen zwangsläufig nach dem Wettkampf wieder eng zusammen. Der Unterlegene hat eine neue Chance. Titelverteidiger und Fußball-Riese Italien wird ausgerechnet vom Fußball-Zwerg Schweiz gestoppt. Der Gewinner kann sich eben nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Darin liegt das Verhängnis des Sieges: Dass er so kurzlebig ist. So schnell vergessen. Schon morgen kommt ein neuer Ronaldo, mit flinkeren Füßen, raffinierter vor dem Tor.

Fußballer werden wie Balletttänzer schon in jungen Jahren alt, und die wenigsten haben ein Konzept, damit umzugehen. Ronaldo ist bei dieser Europameisterschaft das Beispiel für den klassischen tragischen Helden. Er ist erfolgreich, aber sein Erfolg ist nur ein Abglanz der früheren Taten. Er wird zum eigenen Denkmal, zum Prinzen, der sich vor aller Augen zurück in einen Frosch verwandelt. In der Literatur überlebt der Held seinen eigenen Ruhm nicht. Winnetou in Pantoffeln wäre unvorstellbar. Oft verändert die Heldenreise den Protagonisten derart, dass er sich nach dem Erfolg seiner Mission nicht mehr einfügen kann und zerbricht. Englands Jude Bellingham könnte hier als Beispiel genannt werden. Ein höchst talentierter Fußballer und Polizistensohn, der sich im Achtelfinale so sehr vergaß, dass er vor den Augen des Stadions und der europäischen TV-Öffentlichkeit eine obszöne Geste vollführte, Godzilla freiließ, wie man in England gerne dazu sagt. Seine Mutter hätte ihm die rüde Handbewegung bestimmt verboten. War das eine Übersprunghandlung? Eine Stressreaktion? Ein Versuch, sich selbst vom Heldensockel zu stürzen, bevor der Lorbeer zu sehr drückt?

Den Fußballhelden geht der Nachwuchs nicht aus. Spaniens Lamine Yamal (16) und Nico Williams (21) stehen für Siege, die jedes Wolfsgeheul zum Schweigen bringen sollten. Barfuß liefen die Eltern von Nico Williams durch die Sahara, um nach Europa zu gelangen. Das ist eine andere Heldenreise, eine, die keine Tore braucht.