Hagen/Dortmund. Mario Götze ist ein Held wie aus dem Drehbuch. Doch wie geht der Fußball mit seinen Ikonen um? Ein Vergleich mit Oper und Literatur.

Auf jedem Helden lastet ein gewaltiger Erlösungsdruck, und der Fußball ist noch viel anfälliger für Erlösungserzählungen und für Rettungsmärchen als Oper und Literatur. Gemeinsam haben diese so unterschiedlichen Sparten eins: Sie vernichten regelmäßig ihre Protagonisten. Erfolgreiche Heldengeschichten gibt es nicht. Der wahre Held muss scheitern. So wie Mario Götze. Mit 22 schießt er eine Nation zum Weltmeistertitel, unsterblich nennen sie sein Tor, als erster 26-Jähriger der Welt kann er sich im Museum bewundern und mit 28 sitzt er auf der Ersatzbank, sein Verein will ihn nicht mehr.

Gnadenbrot. Wie kann es dazu kommen? Steckt dahinter ein Mechanismus, etwa das Gesetz von der Tragödie des Helden?

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Chefreporter Daniel Berg war dabei, 2014, in Brasilien im Stadion Maracana in Rio de Janeiro, als das sogenannte Jahrhunderttalent Mario Götze das entscheidende Tor, das 1:0 gegen Argentinien schießt, und damit ganz Deutschland glücklich macht. Kulturredakteurin Monika Willer will verstehen, warum in nur wenigen Jahren der Weg so steil vom Gipfel nach unten führen kann.

Daniel Berg: Es war ein flirrender, warmer Abend. Die Sonne war bereits hinter dem Stadion untergegangen, von meinem Platz aus auf der Tribüne im sagenumwobenen Stadion Maracana konnte ich die Christus-Statue von Rio hoch oben auf dem Berg sehen. Wer an diesem Abend das entscheidende Tor schießen würde, würde ein weiteres Monument schaffen. Aber dass beide Mannschaften so zäh um dieses Tor rangen und dass es dann eines wurde, das auf so virtuose Weise erzielt wurde, ließ die Realität wie ein allzu kitschiges Drehbuch erscheinen.

Drama in Überlänge

Torschütze: Mario Götze. Der Mann, dem man einst am ehesten ein solches Tor vorhergesagt hatte. Das war aber weit vor diesem Treffer. „Mach iiiiiiihhhhn.“

Er machte ihn. 113. Minute. Drama in Überlänge. WM-Titel. Fußball-Geschichte.

Monika Willer: Er ist dunkelblond, gut aussehend, ein Siegfried wie aus dem Bilderbuch. Nein, kein Siegfried. Denn Richard Wagners deutschester aller deutschen Recken ist nicht besonders helle und schlägt alles tot, was ihm in die Quere kommt. Götze hingegen hat einen Professor zum Vater und engagiert sich seit langem für benachteiligte Jungen und Mädchen, er hat ein Kinderbuch über Träume und Respekt geschrieben. Also lieber ein Parsifal auf der Suche nach dem heiligen Gral? Oder noch besser ein Lohengrin, der als Erlöser gefeiert wird und doch selbst so erlösungsbedürftig ist?

Daniel Berg: Vielleicht ist es die Liebe, die er suchte und nicht mehr fand. Als Mario Götze anfing, ins Licht einer größeren Öffentlichkeit zu treten, da suchte er erstmal nicht, da fand er: Räume, Mitspieler, Lösungen. Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, als er in der Bundesliga auftauchte und sie durcheinanderwirbelte. Erste Saison als Stammspieler: erste Meisterschaft. Zweite Saison: zweite Meisterschaft plus DFB-Pokalsieg. Dritte Saison: Einzug ins Champions-League-Finale. Dortmund lag ihm zu Füßen. Der, von dem man sich im Verein schon länger zuraunte, dass er zwar gerade erst volljährig, aber ein Versprechen für die Zukunft sei, hielt Wort. Ein Wort, das er nie gegeben hatte.

Ach, was liebten sie ihn

Ach, was liebten sie ihn damals in der Stadt, jener Stadt, die wie kaum eine andere von einem Fußballverein besessen ist. Fußballspieler sind dort nicht bloß Fußballspieler, sie sind Projektionsflächen. Sie werden geliebt. Zu sehr?

Jürgen Klopp war damals sein Trainer, dessen väterliches Vertrauen machte Mario Götze so gut, wie er sein konnte. Götze aber zog von zu Hause aus, ging 2013 nach München. Er verlor die Liebe in Dortmund. Das Ausmaß schockierte ihn. Er fand in München nicht das Vertrauen von Trainern und Mitspielern. Er war hier fort, aber dort nie angekommen. Und als er zurück kam, war es zu spät für eine Rückkehr. Plötzlich irgendwie heimatlos?


Monika Willer: Eine Antwort liefert möglicherweise J.R.R Tolkien in seinem „Herrn der Ringe“. Frodo muss den Ring der Macht vernichten, dessen Last an ihm zehrt und der ihn dennoch mit Bedeutung erfüllt. Als die Heldentat vollbracht ist, sind alle glücklich, nur Frodo wird krank, denn Heldentum gibt es nicht ohne Preis. Die Tat rettet das Land und versehrt den Helden. Das lässt sich nicht heilen. In der neuen Welt gibt es keinen Platz mehr für den Protagonisten, der sie erst möglich gemacht hat.


Daniel Berg: André Schürrle, der Mann, der an dem Abend in Rio die Flanke schlug, die zu Götzes Tor führte, sagte einmal, dass er sehr zufrieden sei mit seiner Rolle an diesem Abend, dass er dieses Tor nicht hätte schießen wollen. Und Götze? Sagt das so nicht. Er weiß, wie es ist, an den stets maximalen Erwartungen anderer gemessen zu werden. Als er anfing zu spielen, da wollte er bloß besser sein als sein älterer Bruder. Schnell war er besser als alle anderen. Er sei ein Jahrhunderttalent, die deutsche Antwort auf Messi oder Ronaldo, riefen sich die Experten zu. Weltkarriere voraus. Er hat sie gehabt, er hat seine Weltkarriere gehabt. Nur im Zeitraffer. Nur anders als gedacht. Aber warum muss das ein Fehler sein? Vor allem: Warum muss das sein Fehler sein?

Eine Heldentat ist singulär

Monika Willer: Eine wahre Heldentat ist singulär. Sie ist unwiederholbar. Im Märchen lebt der Held danach mit Frau und Kindern glücklich und zufrieden, bis ans Ende seiner Tage. Oder er verschwindet, so wie Frodo, ermüdet von einem unerfüllbaren Erwartungsdruck. Ist Mario Götze müde?Daniel Berg: Die Dynamik früher Tage ist ihm abhanden gekommen. Er hatte schwere Verletzungen, lange Ausfallzeiten. Man hielt ihn nicht immer für austrainiert, dabei sagen seine Trainer, dass es kaum jemanden gibt, der mehr auf sich achtet als Götze. Er weiß alles über den Bio-Rhythmus, das richtige Schlafen, das gesunde Essen, wirkungsvolle Kraftübungen. Nur die letzten fünf Trainer setzten allesamt nicht mehr dauerhaft auf Götze. Vielleicht hat er sich verloren auf der Suche nach sich und seiner Form. Er ist heute das, was er nie war, aber vielleicht manchmal sein wollte: ein normaler Fußballer. Man hielt ihn für arrogant, für eingebildet. Vielleicht war das nur ein Schutz. Wie geht man mit all dem um? Mit Erlebnissen, die für drei Karrieren reichen? Welches Seminar auf welcher Fußball-Akademie könnte je irgendjemanden auf so etwas vorbereiten?Monika Willer: Was macht eine ausgediente Ikone? Mick Jagger ist auch so ein Jahrhundert-Talent. Der steht mit 76 nicht auf der Bühne, weil er zu wenig Geld zurückgelegt hat, sondern, weil er spielen will und spielen muss. Müssen Fußballer spielen? Ist es überhaupt möglich, dass sie unbeschadet ins Zivilleben wechseln? Kann der Held aufhören, die Welt zu retten?Daniel Berg: Was nun wird, weiß noch keiner so genau. Der Zeitpunkt, um – wie bei Mario Götze der Fall – am Ende der Saison ohne Vertrag zu sein, könnte schlechter nicht sein. Das Coronavirus verunsichert die internationale Branche. Wie und wann geht die neue Saison los? Geht sie überhaupt los? Und wer kann und will sich einen Großverdiener wie Mario Götze anschaffen, ohne zu wissen, welchen Mario Götze er da bekommt?

Götze wäre nicht der erste, dem nach dem größten Glück das Glück abhanden kommt. Von Helmut Rahn, dem Siegtorschützen im WM-Finale 1954, heißt es, dass er seine Geschichte so oft erzählen musste, dass er irgendwann lieber darüber schwieg. Nach einem Unfall mit seinem Auto ging wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer in den Knast, als seine Karriere noch lief. Gerd Müller traf 1974 in München, verfiel aber später dem Alkohol. Andreas Brehme war 1990 in Rom immerhin schon 29 Jahre alt, er trat acht Jahre später als Meister ab.

Götze feierte vor wenigen Tagen seinen 28. Geburtstag. Ein junger Mensch, der gerade erstmals Vater geworden ist. Er muss kein Held mehr sein. Nicht für andere.