Hagen. Hagen zeigt eine beeindruckende Werkschau des französischen Künstlers Jean Fautrier. Er hörte die Schreie der von den Nazis Ermordeten.
Die Stelen mit den Kopfskulpturen wirken mitten im avantgardistischen Oberlichtsaal des Emil-Schumacher-Museums Hagen wie ein urzeitliches Erinnerungsfeld, eine Nekropole, „ein Schmerzensschrei der menschlichen Natur“. So würdigen die beiden Iserlohner Kunstsammler Dr. Theo Bergenthal und Martin Roder jene Köpfe, für die der französische Künstler Jean Fautrier international berühmt wurde, die „Otages“ (Geiseln) mit ihrer entsetzlichen Geschichte. Sie stehen im Mittelpunkt einer großen und sehr beeindruckenden Ausstellung, die das Haus ab 30. Juni dem Informel-Pionier widmet. „Jean Fautrier -Genie und Rebell“ ist die erste umfassende Retrospektive in Deutschland seit 45 Jahren.
Jean Fautrier (1898 - 1964) stand der französischen Resistance nahe und wurde dafür 1943 durch die Gestapo im nationalsozialistisch besetzten Paris verhaftet. Seine Künstlerfreunde appellierten sogar an den NS-Bildhauer Arno Breker, seine Freilassung zu erreichen. Anschließend rettete er sich auf das Gelände einer psychiatrischen Klinik in einem Vorort von Paris, wo ihm der befreundete Schriftsteller Jean Paulhan ein Atelier zur Verfügung stellte. Im Wald rund um die Anstalt richteten die Nazis Gefangene hin, auf grausame Art. Vor allem bei jungen Geiseln zielten die Besatzer auf die Gesichter, die dadurch zerfetzt und zu unkenntlichen Klumpen aus Haaren und Haut zerschmettert wurden. Die Schreie der Opfer hörte Fautrier im Atelier.
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Dieses traumatische Erlebnis verarbeitet der Künstler in einer Serie von Skulpturen und Bildern, eben den „Otages“, die zweigeteilte Köpfe zeigen, eine Hälfte wüst und zerstört und die andere Hälfte hell und leuchtend. Der versuchten Entmenschlichung der Geiseln durch die Nazis setzt er Denkmäler des Menschlichen im besten Sinne entgegen. Weitere Köpfe widmet er später den Budapester Demonstranten, deren unbewaffneter Protest 1956 mit einem blutigen Massaker niedergemetzelt wurde.
Grauen und Schönheit sind die Gegenpole in Fautriers Biographie, und als solche auch in seinem Schaffen. Er reflektiert die Zeitgeschichte künstlerisch, und die „Otages“ gelten neben Pablo Picassos „Guernica“ als eindrucksvollste künstlerische Reaktion auf den zweiten Weltkrieg.
Fautrier wurde als Kind von seiner Mutter verlassen, die nach dem Tod des Vaters zurück nach London zog, der Junge musste in Paris bei der Großmutter bleiben und siedelte erst nach deren Tod zur Mutter über. Im Ersten Weltkrieg erlitt er als Soldat durch Giftgas eine Lungenverletzung, die seine Gesundheit schwer beeinträchtigte. Die Weltwirtschaftskrise ruinierte seine Einkünfte, und die Nazis machten ihn zum Rebellen, der sich als Skilehrer und Wirt durchschlagen musste. Er galt als Mann, der sehr wütend werden konnte, und starb im Alter von nur 66 Jahren an einem Wutanfall, ausgerechnet am Tag seiner geplanten zweiten Hochzeit.
„Wir zeigen den größten Reigen von Fautrier-Plastiken an einem Ort seit Jahrzehnten.“
Daher wundert es nicht, dass sich die dunkle Seite der menschlichen Existenz in Fautriers Werk spiegelt. Umso wundersamer ist es allerdings zu entdecken, dass es in diesem Schaffen auch lichte, ja sogar heitere Momente voller tiefer Poesie gibt.
Rouven Lotz, der Direktor des Emil-Schumacher-Museums, kuratiert die Ausstellung in spannenden Kapiteln, denn in Hagen wird nicht nur das Werk neu gezeigt, sondern in der Zusammenarbeit mit Sammlern und Wissenschaftlern neu untersucht. Viele offene Fragen können im Zusammenhang mit der Ausstellung beantwortet werden. „Martin Roder hat den Plastiken nachgeforscht und ein ausführliches Werkverzeichnis erstellt. Daran kommt die Forschung in Zukunft nicht vorbei. Wir zeigen den größten Reigen von Fautrier-Plastiken an einem Ort seit Jahrzehnten“, so Rouven Lotz. Eine große Rolle spielen außerdem die „Originaux multiples“, also Serien, die durch eine letzte Hand des Künstlers zu Originalen werden, und natürlich die 70 Gemälde, die den Weg des Künstlers zur Abstraktion nachvollziehbar machen. Einige von ihnen sind erst jüngst wieder entdeckt worden oder haben ein besonderes Schicksal, wie das Mädchenporträt, das zweimal durchgerissen war und nun restauriert in Hagen zu bewundern ist.
Die Akte sind ein Kapitel für sich. Dunkelheit umfängt die leuchtenden Frauenkörper wie ein Schutzmantel. „Fautrier überhöht und überzeichnet seine Akte nicht, das sind reale Frauen. Darin zeigt sich der Einfluss von George Grosz und Otto Dix, denen er wohl 1920 auf einer Dresden-Reise begegnet ist“, erläutert Rouven Lotz.
Von Picasso hält er sich fern
Von der seinerzeit aktuellen Pariser Kunstszene mit Georges Braque, Pablo Picasso und den Kubisten hält sich Fautrier fern, „er will sein eigenes Ding machen“, weiß Lotz. Aber er ist eng befreundet mit den französischen Literaten und gestaltet Künstlerbücher sowie innovative grafische Serien.
Natürlich ist für Rouven Lotz auch das Verhältnis des deutschen Informel und besonders Emil Schumachers zu dem älteren Wegbereiter interessant: „Als Schumacher 1954 nach Paris reist, sind Wols und Fautrier die großen Stars in der Stadt. Daran orientieren sich die jungen Wilden im Westen.“
Mit der Farbgestaltung der Wände in tiefem Blauschwarz und Tiefdunkelgrün schafft das Emil-Schumacher-Museum einen außergewöhnlichen Rahmen für die über 150 Fautrier-Exponate. Darin korrespondieren die dunklen Blumenstillleben am Anfang des Rundganges mit der finalen Skulpturengruppe. Denn diese Blüten sind Totenblumen, letzte Liebesgrüße angesichts der Schmerzen der menschlichen Existenz.
Jean Fautrier: Genie und Rebell. 30. Juni bis 27. Oktober, Emil Schumacher Museum Hagen. www.esmh.de