Bad Berleburg. Ex-Landrat Paul Breuer, einer der Väter des Artenschutzprojekts, äußert sich. Warum eine Vermittlung der Tiere nach Osteuropa schwierig ist.

Was passiert mit der ersten freilebenden Wisentherde in Deutschland seit gut 275 Jahren? Seit die mächtigen Helden des in Westeuropa einzigartigen Artenschutzprojekts in ein 24 Hektar großes Gatter in Wittgenstein gesperrt wurden - damit sie nicht mehr ins nahe Sauerland wandern und justiziable Schäden an Buchen verursachen -, entwickeln sich die Zukunftsaussichten der betroffenen gut 40 Wisente im Rothaargebirge zu einem Krimi.

Paul Breuer ist einer der Väter des Wiederansiedlungsprojekts, er war Landrat, als im April 2013 die ersten Wisente ausgewildert wurden. „Ich werde bald 74“, sagt der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete, „noch vor wenigen Monaten hätte ich gewettet, dass die Herde mich überlebt. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.“

Genaue Zahle der Wisente nicht bekannt

Die Herde, so steht es im Projektvertrag, sollte nicht größer als 25 Wildrinder werden. Jetzt sollen es um die 40 sein, die genaue Zahl erfährt die Öffentlichkeit nicht. Die Zurückhaltung bei der Behördenkommunikation in Siegen (Kreis Siegen-Wittgenstein) und Düsseldorf (NRW-Umweltministerium) erinnert an Statements von Kriminalisten: „Wegen der laufenden Ermittlungen machen wir derzeit keine Angaben.“

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„Ich hielte es für unverantwortlich“, sagt Paul Breuer und man hört ein tiefes Durchatmen, „wenn die Wisente länger verbleiben müssten.“ Eine Fläche von 24 Hektar ist aus Sicht des Mitglieds des Fördervereins „Wisent-Welt-Wittgenstein“ zu klein für 40 Tiere. Erst recht, wenn bald die Brunft beginne.

Größtes Landsäugetier Europas

Das Wisent ist das größte Landsäugetier Europas. Bereits steinzeitliche Höhlenmalereien, die vor mehr als 30.000 Jahren angefertigt wurden, zeigen die charakteristische Gestalt der Wildrinder mit ihrem zotteligen Fell und dem markanten Kopf.

Ausgewachsene Tiere werden bis zu drei Meter lang und bis zu zwei Meter hoch. Ein Bulle kann durchaus eine Tonne auf die Waage bringen.

Für Breuer heißt das konkret: Die Zahl der Wisente müsse schnellstens verringert werden: „Und das nicht, indem man Tiere tötet. Das wäre eine Katastrophe.“ Sondern? Sie müssten an andere Artenschutzprojekte in Europa vermittelt werden: „Das muss möglich sein“, sagt der Wittgensteiner, „auch wenn das Herdbuch zuletzt nicht mehr geführt wurde, was ein großer Fehler war. Aber: Die Tiere sind gesund und nicht so von Inzuchtschäden betroffen, wie es gerne kolportiert wird.“

Am Freitag, 26. April, stehen die Wisente auf der Tagesordnung des Kreistages. Die zentralen Fragen: Wie (und ob) geht es weiter mit dem Projekt und was passiert mit den Tieren? Ein Wechsel in ein anderes Artenschutzprojekt gestaltet sich offenbar schwierig, wie Fred Zentner vom Wisentreservat Damerower Werder in Mecklenburg-Vorpommern weiß: „Ich sehe wenig Chancen, sie an ein Artenschutzprojekt oder einen Zoo in Deutschland zu vermitteln.“ Man könne die Tiere nicht für eine gezielte Nachzucht verwenden, weil man nicht wisse, welche in der Natur geborene Nachkommen welche Eltern hätten: „Den Tieren fehlen die für eine Zucht notwendigen Ahnentafeln“, so Zentner.

Importstopp nach Rumänien

Was ist mit Osteuropa? „Rumänien fällt derzeit aus“, sagt Zentner, „wegen der Blauzungenkrankheit in Deutschland wurde ein Importstopp verhängt.“ Und Aserbaidschan? „Ein großer logistischer Aufwand, die Wisente müssten in Einzelboxen per Flugzeug transportiert werden.“ Und es fielen weitere Kosten an: „Die Betäubung eines einzelnen Tieres kostet 400 Euro. Es kann gut sein, dass für eine Voruntersuchung eine weitere Betäubung notwendig ist.“ Überhaupt, ergänzt Zentner: „In Polen werden Wisente in freier Wildbahn entnommen, weil dort mittlerweile zu viele Tiere auf zu engem Raum sind. Ansonsten würde das die Natur selbst regeln: indem sich Seuchen verbreiten.“

Ein Bild aus Zeiten, als freilebende Wisente im Rothaargebirge herumstreiften.
Ein Bild aus Zeiten, als freilebende Wisente im Rothaargebirge herumstreiften. © WP | Wolfram Martin

Stichwort Krimi: Entnehmen, sprich: sie zu erschießen - ist das auch eine Option in Wittgenstein? Fred Zentner ist mit ganzem Herzen Leiter des Wisentreservats Damerower Werder. Er sagt: „Artenschutz muss man pragmatisch sehen, Emotionen bei Entscheidungen außen vor lassen. Es gehört auch dazu, Tiere zu entnehmen – zumal, wenn sie wegen fehlender Ahnentafeln für die Rettung des Wisents als Art nicht relevant sind.“ So diene es auch der Arterhaltung, wenn wegen begrenzter Lebensräume zum Beispiel alte Bullen entnommen würden.

Die Zeit drängt

Das 24-Hektar-Gatter in Wittgenstein ist Zentner zufolge keine Dauerlösung: „Es drängt die Zeit für Entscheidungen. Ende Mai beziehungsweise im Juni kommen Kälber zur Welt. Dann könnte die Herde gut und gerne um bis zu zehn Tiere größer sein.“

Das Gatter beschäftigt auch Alt-Landrat Paul Breuer: „Die absolute Perspektivlosigkeit wurde vor wenigen Wochen mit der Entscheidung des Kreises Siegen-Wittgenstein geschaffen, die freilebende Wisentherde in ein Gatter zu sperren“, sagt er. Zudem habe die Wittgenstein-Berleburg’sche Rentkammer den Projektvertrag aus nachvollziehbaren Gründen gekündigt – wodurch die Wälder des Prinzen zu Sayn-Wittgenstein nicht mehr zur Verfügung stünden. Breuer: „Das Projekt in der bisherigen Form ist gescheitert.“

Die absolute Perspektivlosigkeit des Projekts in der bisherigen Form wurde vor wenigen Wochen mit der Entscheidung des Kreises Siegen-Wittgenstein geschaffen, die freilebende Wisentherde in ein Gatter zu sperren.
Paul Breuer - Ehemaliger Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein

Unter solchen Voraussetzungen, findet Breuer, dürfte sich kein neuer Projektträger finden: „Mir fehlt die Vorstellungskraft, dass die Karre von politischer Seite aus dem Dreck gezogen werden könnte – auch wenn ich mir wünsche, dass es in einer wie auch immer gearteten neuen Form weitergeht.“ Den heutigen Akteuren will er keinesfalls Gestaltungsfähigkeit absprechen. Aber: „Es fehlen aktuell beim Land NRW und beim Kreis Siegen-Wittgenstein Mut und Herzblut für das Projekt.“

Breuer weiß, dass die öffentliche Wahrnehmung der freilebenden Wisente lange Zeit durch Gerichtsprozesse geprägt war. Er wolle keinem „den schwarzen Peter zuschieben“, betont er. Aber: Der entscheidende Grund für das Scheitern seien die verhärteten Fronten. „Wir haben nicht den Schlüssel zu einer gedeihlichen Kommunikation mit den Sauerländer Waldbauern gefunden. Ein solches Projekt lässt sich nur mit Kompromissfähigkeit umsetzen.“

Zuletzt Serie von Fehlern

Natürlich hätten die Wisente Schälschaden an Buchen verursacht – „übrigens auch in Wittgensteiner Wäldern“, so Breuer, „ohne dass Entschädigungszahlungen beantragt worden wären. Und die Schäden durch Wisente sind im Vergleich zu denen, die auf das Konto von Rothirschen gehen, wesentlich geringer. Darüber spricht nur niemand.“ Sein Eindruck: „Beim Wisentprojekt haben alte Regions-Grenzen zwischen Sauerland und Wittgenstein eine Rolle gespielt. Offenbar sollten noch alte Rechnungen beglichen werden.“

Was Breuer nicht verschweigen will: Beim Trägerverein sei nicht alles richtig gemacht worden: „Mit dem Tod von Johannes Röhl, Leiter der Wittgenstein-Berleburg’schen Rentkammer, vor zwei Jahren begann eine Serie von schweren Fehlern: Man hat alles laufen lassen, mit Blick auf die Anzahl der Tiere, innere Zusammensetzung und Blutauffrischung der Gruppe wurde kein ordentliches Herdenmanagement mehr betrieben.“

Das Projekt scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. „Es ist jammerschade“, sagt Breuer und spricht von einem „traurigen Kapitel in der europäischen Artenschutzgeschichte“. Und doch: „Wisente werden nicht aus der Region verschwinden.“ Er meint die Tiere im Schaugehege der Wisent-Wildnis zwischen Schmallenberg-Jagdhaus und Bad Berleburg-Wingeshausen.