Wenden. Warum Hausarzt Stefan Spieren massiv auf die Videosprechstunde setzt, obwohl er weniger daran verdient.

Tahir Selimaj sitzt an seinem Bürotisch zuhause. Er versucht zu lächeln. Die Couch ist ganz in seiner Nähe. „Der Rücken. Er schmerzt“, sagt der 34-Jährige, der auf die Videosprechstunde mit Hausarzt Stefan Spieren gut vorbereitet ist.

Auf Fragen zu seiner Krankengymnastik antwortet er prompt. Seit einem Verkehrsunfall ist Selimaj in seiner Bewegung eingeschränkt. Spieren, der sich während der virtuellen Sitzung Notizen macht, sitzt 25 Kilometer von ihm entfernt in einem modern eingerichteten Behandlungszimmer seiner Praxis in Wenden-Hünsborn.

Sein Patient erzählt dem Hausarzt von seinen Fortschritten – und welche Symptome ihn noch plagen. „Ich bin heilfroh, dass es dieses Angebot gibt“, sagt Tahir Selimaj, der für das vier Minuten dauernde Gespräch nicht aus Lennestadt anreisen muss. „Man ist so flexibel, es geht sogar über das Mobiltelefon.“ Jede Bewegung spüre er, erzählt Selimaj, er brauche Ruhe und das ermögliche ihm der Austausch am Bildschirm. Am Ende der Besprechung drückt ihm Spieren vor laufender Kamera noch die Daumen.

Auf Sendung aus der Firmentoilette

Spieren, 46 Jahre alt, sprüht vor Energie. Er ist von den technischen Möglichkeiten für Hausärzte begeistert. Und er redet gern Klartext ohne Umwege: „Flexibilität heißt das Zauberwort“, so der Sauerländer. Auch wenn diese manchmal aufseiten der Patienten skurrile Formen annehme: Es komme schon vor, sagt der Allgemeinmediziner, dass der eine oder andere aus der Firmentoilette auf Sendung gehe oder Monteure sich aus dem Führerhaus eines Lkw meldeten. „Vor Kurzem schaltete sich ein 18-Jähriger aus seiner Schulklasse zu, noch bevor er sie verließ.“

Spieren gehört immer noch zu einer Minderheit in Deutschland, die sich auf Videosprechstunden spezialisiert haben. Es gebe nur eine Handvoll Hausärzte bundesweit, die das so professionell anböten wie er, sagt der Sauerländer über sich selbst. In der Zentrale der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) in Dortmund kennt man Stefan Spieren, der immer wieder in Vorträgen Werbung für die Videosprechstunden bei seinen Kollegen macht, noch bevor man seinen Namen nennt. Als „vorbildhaft“ wird seine Arbeit beurteilt.

Patienten mit Berührungsängsten

Spieren bot das Gespräch am Bildschirm als einer der ersten Hausärzte in NRW an. Mittlerweile sind es 20 Videosprechstunden am Tag. 300 bis 400 pro Quartal. Kaum einer seiner Patienten nutzt sie nicht. In NRW keine Selbstverständlichkeit: Nach einem starken Anstieg der Anzahl zu Beginn der Corona-Pandemie konnte sich diese Entwicklung nicht fortsetzen. Aktuell scheint die Nachfrage nach Videosprechstunden wieder leicht zu steigen: „Vor der Corona-Pandemie rechneten je Quartal nur eine zweistellige Zahl unserer Mitglieder die Videosprechstunde ab. In den Jahren 2020 und 2021 hingegen wuchs diese Zahl rasant und stieg auf gut 3000 Ärzte sowie Psychotherapeuten je Quartal“, berichtet Daniel Müller von der KVWL. Zuletzt sei diese Zahl wieder im dritten Quartal 2023 auf 2100 gesunken.

Wer es möchte, dem erklären wir sogar, wie sein Mobiltelefon funktioniert und was ein Browser ist.
Stefan Spieren - Hausarzt aus Wenden

„Berührungsängste“, so Spieren, „braucht vor einer Videosprechstunde keiner zu haben.“ Seine Patienten können die digitale Sprechstunde sogar trainieren. Auch in Einzelterminen. Alle vier Wochen, immer am Donnerstagnachmittag. Dann erfahren sie in 30 Minuten, wie sie online einen Termin buchen können. Auch die Videosprechstunde selbst wird geübt. „Und wer es möchte, dem erklären wir sogar, wie sein Mobiltelefon funktioniert und was ein Browser ist.“

Eigens ausgebildete Beratungskräfte würden bei technischen Hürden helfen und sie bei Bedarf aus dem Weg räumen. „Videosprechstunden, die muss man zwei- oder dreimal machen, dann gewöhnt man sich daran. Oft kommen Paare gemeinsam“, so Spieren. Wer sich bereiterklärt, bekomme auf sein Handy, Tablet oder seinen Computer einen Link geschickt, der zu der entsprechenden Videokonferenz führe. „Mikrofon und Kamera freigeben. Symptome schildern. Fragen besprechen. Auflegen. Gesund werden.“ Spieren lächelt.

Zurzeit reiht sich bei dem 46-jährigen Hausarzt aus Wenden eine Sprechstunde nach der anderen. „Erkältungswelle“, sagt der Sauerländer kurz und trocken. Grippesymptome, Nachbesprechung eines Röntgenbildes, Darmspiegelungsbefund, die Themen seien vielfältig. Dabei steht Spieren unter Zeitdruck. „Fünf Minuten pro Sitzung sind vorgegeben.“ Durch die enge Taktung komme es auf eine gute Vorbereitung an. Auch bei seinen Patienten.

Zeitersparnis: 15 Minuten

Mit digitalen Tools würden Praxen dringend benötigte Zeit für die Patienten und das Team freischaufeln, weiß Spieren zu berichten. „Früher waren es 30 Stühle im Wartezimmer, heute sind es nur noch fünf.“ Wenn die Patienten einmal in der Praxis seien, wollten sie auch mehr – von den Anmeldungen bis hin zum persönlichen Nachgespräch. 15 Minuten spart der 46-Jährige bei einem Videosetting. Das sei eine einfache Rechnung. „Ich entlaste vor allem mein Personal, sprich meine fünf Mitarbeiterinnen.“ Würde er nicht mit der Videosprechstunde arbeiten, bräuchte er mehr Personal. „Ein bis zwei Stellen wohl.“

Mehr zum Thema

Zwei Drittel seiner Patienten sind laut Spieren jünger als 50 Jahre alt. So manche Senioren würden von ihren Angehörigen unterstützt. „Da sitzt schon mal der Enkel mit der Oma vor der Kamera“, berichtet er. Die meisten seiner Patienten kennt der Hausarzt aus Wenden gut. Verbindungsprobleme habe kaum jemand - und fast jeder besitze ein Mobiltelefon. Und die Zahl seiner Patienten, die das virtuelle Angebot annehmen, wachse kontinuierlich.

Ein Trend, den auch die KVWL bestätigen kann: Bis 2019 nahmen je Quartal nur eine dreistellige Zahl an Patienten an einer Videosprechstunde der niedergelassenen Ärzte in Westfalen-Lippe teil. Entlang des Pandemie-Verlaufs schnellte diese Zahl auf jeweils rund 45.000 Patienten pro Quartal hoch. Diese Zahl ging zuletzt wieder auf 34.000 Patienten zurück.

Stefan Spieren hat 2015 die Hausarzt-Praxis von seinem Vater übernommen. Um Videosprechstunden anbieten zu können, hat er 500 Euro in eine Kamera und eine Freisprecheinrichtung investiert. „Reich wird man damit nicht, Geld bringt nur der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt“, sagt der Mediziner. An einer fünfminütigen Videosprechstunde verdiene er nur fünf Euro. „Dann muss man auch durch sein.“ Aber Geld sei eben nicht das Argument, das für Videosprechstunden spreche.

Entlastung für die Praxis

Immer noch stoße das virtuelle Angebot bei vielen Kolleginnen und Kollegen auf Ablehnung. Spierens Appell: „Verschließen Sie sich nicht der Möglichkeit. Irgendwann werden sonst die Patienten darüber abstimmen.“ Spätestens dann, wenn die Probleme mit den Systemen für die elektronische Patientenakte und das elektronische Rezept behoben seien. Dann greife ein Rad ins andere. Ärzte, die Spieren von den Vorzügen der Videosprechstunde überzeugen konnte, sagten oft: „Ach, es funktioniert ja.“

Wer die Patientenversorgung mit weniger Personal aufrechterhalten wolle, komme um digitale Modelle nicht herum, berichtet Spieren. Es fehle medizinisches Fachpersonal. Er ist überzeugt: „Wenn die Vergütungsstruktur angepasst wird, ist der Anreiz auch groß.“